Die ganz normale Gewalt an Frauen

Die Grand Dame der italienischen Literatur, Dacia Maraini, landete mit ihrem Roman „Stimmen“ 1994 einen internationalen Erfolg, in dem sie von Gewalt an Frauen und ihrer Verbreitung erzählte. In Reaktion auf die diskursive Verschiebung auf außereuropäische Täter und Ursachen von Gewalt an Frauen in Europa hat sie 2012 ein Bändchen mit acht Erzählungen veröffentlicht. Darin verwebt sie biographische Skizzen mit den komplizierten, von außen oft nicht nachvollziehbaren Dynamiken von (häuslicher) Gewalt an Frauen. Nun auch auf Deutsch erschienen berichtet sie von Überlebensstrategien, Identifizierung mit dem Täter, gefährlicher Selbstüberschätzung ihn beruhigen zu können und verzweifeltem Glauben an Gerechtigkeit, was das Handeln der Frauen verständlich macht und zugleich vergegenwärtigt, wie sehr gesellschaftliche Strukturen die Täter schützen. Auch diese Männer werden als widersprüchlich, ambivalent und verführerisch gezeichnet. Überraschend präsent ist diesmal die Rolle von Eltern, aus deren Perspektive erzählt wird, von Müttern, die zu lange wegschauen, die nicht glauben wollen, und Vätern, die Prinzessinnen aufziehen oder sich nicht trauen, die Gewalt anderer Männer zu benennen – sie werden an ihre Teilhabe und Verantwortung erinnert. Maraini bietet ein wertvolles Gegengewicht zu medial verzerrten Darstellungen von häuslicher Gewalt, den zugrunde liegenden gesellschaftlichen und Beziehungsstrukturen. Auswege und Erfolgsgeschichten hätte ich mir zwar auch gewünscht – aber das ist eine andere Realität als jene, über die Maraini (als europäische Tradition) wieder aufrütteln möchte. mel
Dacia Maraini: Geraubte Liebe. Geschichten. Aus dem Italienischen von Gudrun Jäger. 188 Seiten, edition fünf, Gräfelfing/Hamburg 2015  EUR 20,50