Gegenwärtigkeit von Vergewaltigungen

Mit welchen Bildern im Kopf leben Kinder von Frauen, die nach Kriegsende in Deutschland von Soldaten aller Besatzungsmächte vergewaltigt worden sind? Die dabei gezeugt wurden oder von davon traumatisierten Müttern später geboren wurden? Miriam Gebhardt hat sich in ihrem vorherigen Buch „Als die Soldaten kamen“ diesen geschätzten 900.000 Frauen gewidmet, nun wendet sie sich den „Kindern der Gewalt“ zu – eine Begriffskreation, um das Spezifische ihres Aufwachsens benennen und sie gegen Kriegskinder abgrenzen zu können, ohne jedoch Holocaust zu relativieren oder Leid aufzurechnen. Auf Basis unzähliger Gespräche, Briefe, Emails, Telefonate versucht sie von fünf Biografien über vier Töchter und einen Sohn ausgehend, die individuellen Schicksale „vor der Folie des historischen Kontextes zu verstehen“, ohne sie als Einzelfall aus heutiger Warte zu generalisieren (warum dann aber der Begriff „Massenvergewaltigungen“?). Die Eingrenzung auf „deutsche“ Zivilistinnen ist kritikwürdig, auch methodisch und theoretisch ließe sich viel diskutieren. Gebhardt geht insgesamt jedoch sehr behutsam vor und zeigt detailliert auf, wie grausam, frauenverachtend und schuldumkehrend die Nachkriegsgesellschaft mit diesen Frauen und ihren Kindern umgegangen ist. Es sind erschütternde Geschichten von teils hundertfach vergewaltigten Frauen, von Kindern, die für ihr Leiden bestraft wurden, materiell diskriminiert, gesellschaftlich geächtet. Gebhardt geht es um dieses Gefühlserbe und transgenerationale Prozesse, ihr Fokus gilt dem Fortwirken dieser verdrängten deutschen Realität.
Meike Lauggas
Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden. 301 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019
EUR 24,70