Kein Entrinnen vor der Scham

Auch in diesem Werk geht es Ernaux um die Verarbeitung ihrer Primärsozialisation, wobei sie es mit ihrem mikroskopischen Blick schafft, neben ihren persönlichen Erfahrungen die gesellschaftliche Metaebene dazu zu reflektieren. Anhand einer häuslichen Gewaltszene am 15. Juni 1952, welche sich bei ihr mental eingeschrieben hat, vollzieht sie Jahrzehnte später nach, wie dieses einschneidende Erlebnis die eigene persönliche Wahrnehmung und Verwundbarkeit langfristig beeinflussen. Dabei ist Scham als Reaktion für sie ein Moment der Hilflosigkeit, wo andere konstruktive Möglichkeiten des Reagierens ausgeschaltet sind. Auf zweierlei Wegen holt sie das damalige Familienereignis wieder hervor, in dem sie im Stadtarchiv die Tageszeitungen des Jahres 1952 durchforstet, um das Ereignis darin einzubetten und indem sie klärt, welche Voraussetzungen vorhanden sein müssen, dass sich Scham als Unterlegenheitsgefühl situativ durchsetzt. Für Ernaux ist stimmig, dass Scham in der Pubertät eine gewichtige, kaum vermeidbare Konsequenz ist und dass dieses Muster durch gesellschaftliche Hierarchieverhältnisse stark beeinflusst ist. Lehrreich!

MD

Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Franz. von Sonja Fink. 111 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2020 EUR 18,50