Schonungslose Erinnerungen

Wie ist es, wenn eine Frau sich Jahrzehnte später an ihre erste „Liebesnacht“ erinnert, die jahrelang ein Tabu war und für sie in den nächsten Jahren zu massiven Irritationen geführt hat? Im Jahr 1958 fährt die unerfahrene Annie D., die gerade 18 Jahre alt ist, in das Departement Orne, um in einer Ferienkolonie für Kinder als pädagogische Betreuerin tätig zu sein. Dort lernt sie auf einer Party H. kennen, der sie noch am selben Abend verführt, ohne Gefühle für sie zu empfinden, für den sie nur seine Statistik auffettet. Sie glaubt stattdessen, dass sie sich in ihn verliebt hat, obgleich sie sich mit ihrem eigenen sexuellen Begehren nicht auskennt. Nach dem Ferienlager beschließt sie Volksschullehrerin zu werden, da eine von H.‘s verführten Frauen auch Grundschullehrerin ist. Erst in der Fachschule begreift sie, dass sie für das Berufsziel ungeeignet ist. In dieser Lebensphase ist sie unglücklich, weil sie sich auf ihre Gefühle nicht mehr verlassen kann. Sie steht neben sich. Ihr Wille ist selbstzerstörerisch und richtet sich gegen ihren eigenen Körper, sie hat Essstörungen, über zwei Jahre bleibt ihre Menstruation aus. Nach einem Au-Pair-Aufenthalt in England entschließt sie sich, Literatur zu studieren. Sie kann sich nach und nach wieder spüren. Die Scham über ihre sexuelle Hingabe mit all ihren Folgen wird behutsam von der Autorin bearbeitet und darin liegt ein Reiz dieser Autobiografie, die an die #MeToo-Debatte anknüpft.

ML

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens. Aus dem Franz. von Sonja Fink. 432 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2018 EUR 20,60