Das Recht zum Ungehorsamsein
Die vorliegenden Vorträge und Interviews, die die lateinamerikanische Feministin, Anthropologin und Dekonstruktivstin Rita Laura Segato 2016 in Rosario gegeben hat, leisten einen wichtigen Beitrag dazu, die in Lateinamerika verbreiteten Femizide zu deuten. Nachdem Segato gemeinsam mit Studierenden Gespräche mit Femizid-Tätern in Gefängnissen geführt hat, vertritt sie die Hypothese, dass die Morde weniger aus emotionalen Defiziten der Täter heraus erfolgen als aus deren Begehren, dem patriarchalen Korporationsgeist zu entsprechen. Angewendete Gewalt ist als Akt wesentlich, um sich in mafiösen Strukturen des organisierten Verbrechens zu behaupten. Segato verwehrt sich aber auch gegen eurozentristische Vereinnahmungen, da diese repressiv und bevormundend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Lateinamerika einwirken. Sie ist ebenso keine Anhängerin der Theorie, dass erst mit der Kolonialisierung patriarchale Herrschaftsstrukturen gegriffen hätten, sondern setzt die patriarchale Herrschaftsentwicklung bereits im Neolithikum an. Im zweiten Teil des Buches geht es ihr um herrschaftsschaftsstabilisierende Unterdrückungsformen an den Universitäten. Die Autorin hat sich maßgeblich an der Durchsetzung von Quotenregelungen für Schwarze an lateinamerikanischen Universitäten beteiligt. Zeitgleich sieht sie die Gefahr der Vereinnahmung der ‚Indigenen‘ an den Universitäten, da die Lehre zwar wissenswert ist, aber den Ausbeutungsinteressen der Eliten entspricht. Ihre Quintessenz ist, ungehorsam zu sein; sich zwar in diesen Bildungsarchitekturen zu bewegen, jedoch die Lehre dazu zu nutzen, die Vorstellung zu entwickeln, dass ein anderes Leben möglich ist. Es geht ihr darum, denken zu lernen und nichts als gegeben hinzunehmen, sondern als veränderbar zu begreifen. Die ständige Revolution ist unvermeidbar!
ML
Rita Laura Segato: Wider die Grausamkeit. Aus dem argent. Span. von Sandra Schmidt. 203 Seiten, Mandelbaum Kritik & Utopie, Wien 2021 EUR 17,00