Freiheit wohin?

Die Philosophin Lea Ypi legt mit ihrem Roman, der sich aus ihrer persönlichen Geschichte und der Aneinanderreihung politischer Ereignisse zusammensetzt, ein beachtliches Werk vor. Albanien als eine der letzten staatssozialistischen, europäischen Bastionen scheitert Ende 1990. Zahlreiche Demonstrationen setzen das politische System so massiv unter Druck, dass eine politische Kehrtwende stattfindet. Lea ist zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt und verwirrt, denn plötzlich stellt sich heraus, dass der bereits 1985 verstorbene ‚gute Onkel‘ und Präsident Enver Hoxha in ihrer Familie gar nicht so beliebt war. Der vormalige Staat war für die Verbannung des Großvaters in ein Arbeitslager verantwortlich, das Eigentum der Familie war verstaatlicht worden und die Berufswünsche des Vaters hatten sich zerschlagen. „Als die Freiheit endlich kam, war sie wie ein gefroren serviertes Gericht. Wir kauten wenig, schluckten hastig und wurden nicht satt“. Was in den 1990er Jahren aus der gewonnenen Freiheit wird, ist desaströs. Kapitalistische Strukturreformen, Privatisierungen, Korruption, Pyramidenspiele, ausländische Investoren und IWF leisten ihren Beitrag, um den Transformationsprozess zu gestalten. Die neu erschaffene Gesellschaft versinkt im Chaos und 1997 im Bürgerkrieg. Aus der Perspektive eines jungen Menschen beschreibt Ypi diese Umbruchphase ohne zu polarisieren, jedoch menschliches Leid bleibt ihr in den verschiedenen Systemen nicht verborgen. Aufschlussreich und literarisch wertvoll!
ML
Lea Ypi: Frei. Erwachsen werden am Ende der Geschichte. Aus dem Engl. von Eva Bonné. 333 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2022 EUR 28,80