Verschwinden und Erinnern
Janie beginnt mit einem fragmentarischen Bericht, als ihr Kollege des Hirnforschungszentrums Montreal, Dr. Hiroji, dieses unangekündigt verlässt und daraufhin unauffindbar bleibt. Sie vermutet ihn auf der Suche nach seinem Bruder James, der seit einem Einsatz in Kambodscha als Rot-Kreuz-Mitarbeiter vor Jahren verschollen ist. Janies geordnetes Leben mit Mann und kleinem Sohn gerät angesichts dieses Verschwindens aus der Bahn, die Erinnerungen an ihr eigenes Aufwachsen in Kambodscha, die Machtübernahme der Roten Khmer, das gewaltsame Zerreißen ihrer Familie, die Lager, Grausamkeiten und anschließende Flucht nach Kanada holen sie mit Wucht ein. Aus der Perspektive des Kindes Mei, wie sie damals hieß, schildert sie den sich rapide verändernden Alltag, das Chaos und die Ungläubigkeit, mit der viele Menschen sich plötzlich in einem Gesellschaftssystem wiederfanden, das menschliche Verbindungen und Erinnerungen zugunsten einer neuen Zukunft zu vernichten versuchte.
Madeleine Thiens Buch ist in Kapitel nach einzelnen Protagonist_innen unterteilt, Seite für Seite tut sich auf, wie Mei/Janie überleben konnte, was mit ihrem Bruder Rithy/Sopham und ihren Eltern geschah, was James antreibt, was Hiroji sucht, was es für Janie bedeutet, dass ihr Sohn Kiri im sicheren Kanada aufwächst. Mit leisem, ruhigem Ton von teils lyrischem Klang legt Thien behutsam die verstreuten Teile einer Biografie auf, die erst durch die Erinnerung zu einem Ganzen und Janie/Mei zur Integration der eigenen Geschichte verhelfen. Sprachlich und zeithistorisch sehr empfehlenswert! mel
Madeleine Thien: Flüchtige Seelen. Roman. Übersetzt von Almuth Carstens. 253 Seiten, Luchterhand, München 2014 EUR 20,60