Das Gegenteil von nichts oder alles gleichzeitig

Vacca Vale ist eine Kleinstadt, wie es heute vermutlich viele im US-amerikanischen Rust-Belt gibt. Verlassene Industrieruinen, Arbeitslosigkeit, dubiose Investments zur Wiederaufwertung, eine Jugend ohne Perspektive; Tess Gunty beschreibt die Szenerie akribisch und virtuos. Ebenso pointiert entwirft sie auch die vielen Haupt- und Nebendarsteller*innen ihrer abstrusen Geschichte. Diese dreht sich vorwiegend um die Bewohner*innen des Kaninchenstalls, einem heruntergekommenen Appartmentkomplex in Vacca Vale. Die Protagonistin Blandine ist 18 und hochintelligent. Als Kind bei Pflegefamilien aufgewachsen, bricht sie nach einer Affäre mit dem Musiklehrer die Schule ab und widmet sich fortan den mystischen Lehren der Hildegard von Bingen (ihrer besten – und einzigen – Freundin). Und während im Nachbar-appartment die junge Mutter Hope panische Angst vor den Augen ihres Babys entwickelt, igelt sich die unscheinbare Joan Kowalski mit einem Glas Maraschinokirschen allein in ihrem Bett ein. Und dann ist da noch Moses Robert Blitz, der sich auf seine besonders psychopathische, aber ungefährliche Art den Racheplänen gegen die soeben verstorbene Mutter widmet. Jede Episode für sich böte genügend Stoff für einen Roman. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen und Gewalt, um verquere Online-Welten oder um vergangene und gegenwärtige ökologische Katastrophen. Und dennoch weiß die Autorin die Erzählstränge geschickt miteinander zu verschmelzen. Humorvoll und zugleich todernst, in jedem Fall aber alles andere als moralisierend erzählt Tess Gunty vom zeitgenössischen US-Amerika.
MD
Tess Gunty: Der Kaninchenstall. Aus dem amerik. Engl. von Sophie Zeitz. 416 Seiten, Kiepenhauer & Witsch, Köln 2023 EUR 26,50