Das unsichtbare Leid der Angehörigen

Angehörige von Gefangenen verbüßen ebenfalls eine Strafe, wenn ihre geliebten Menschen für unvorstellbar lange Zeit in Justizanstalten weggesperrt sind. Diesen oft unsichtbaren und vom gesellschaftlichen Diskurs meist vernachlässigten Menschen ist der heuer auf Deutsch erschienene Roman von Francesca Melandri gewidmet.
Paolo, pensionierter Philosophielehrer, und Luisa, Bergbäuerin, befinden sich auf dem Weg zu dem Hochsicherheitsgefängnis, in dem Paolos Sohn und Luisas Ehemann sitzen. Beide haben Menschen getötet – der Sohn aus revolutionärer Überzeugung, der Ehemann aufgrund unkontrollierter Impulsivität und Aggressivität. Der Hochsicherheitstrakt liegt auf einer Gefängnisinsel, die durch ihre mediterrane Schönheit und betörenden Düfte nach Feigen, Sonne und Meer besticht. Schon auf der Überfahrt mit der Fähre bemerken Kapitän und mitreisende Justizwachebeamte den aufkommenden Sturm. Die zwei Besucher_innen werden zur Eile angetrieben. Sie dürfen die Fähre zurück aufs Festland nicht verpassen. Doch genau das passiert. In diesem Vakuum, unverurteilt auf einer Gefängnisinsel ohne Infrastruktur für Besucher_innen gefangen zu sein, beginnen Paolo und Luisa zu sprechen. Dieses Gespräch, das manchmal einfach nur beredtes Schweigen ist, kann zu Tränen rühren. Ein wunderbarer Roman, der die großen Fragen nach Moral und Loyalität anklingen lässt, ohne dabei pathetisch zu sein – leider nur 200 Seiten lang.
bf
Francesca Melandri: Über Meereshöhe. Aus dem Ital. von Bruno Genzler. 208 Seiten, Klaus Wagenbach, Berlin 2019 EUR 14,30