Wie viel Person ist eine Mutter?

Wer die Tetralogie um die neapolitanischen Freundinnen von der unter dem Pseudonym Elena Ferrante publizierenden Autorin gelesen hat, findet sofort zahlreiche bekannte Details in dem Roman „Frau im Dunkeln“. Dieser ist allerdings vorher, nämlich bereits 2006 auf Italienisch und auch 2007 in einer anderen Übersetzung ins Deutsche erschienen. Hier sind bereits einige Aspekte vorhanden, die dann so erfolgreich weiter bearbeitet wurden. Im Mittelpunkt steht eine neapolitanische Anglistin, die mäßig erfolgreich an einer italienischen Universität arbeitet, geschieden ist und zwei erwachsene Töchter hat. Der Roman spielt in den zwei Wochen ihres Urlaubs an einem Strand, wo sie andere Menschen beobachtet, im speziellen eine junge Frau aus Neapel mit ihrer kleinen Tochter. Aus der Ich-Perspektive werden ihre oftmals wenig freundlichen Gedanken erzählt, die sich im Kern um die Frage drehen, welche Möglichkeiten zur Lebensgestaltung Frauen heute haben. Und dies immer wieder im Verhältnis zu Mutterschaft, den Bewertungen und Herausforderungen, denen Mütter dabei unterliegen. Darf eine Mutter ihre Kinder verlassen, weil sie dieses Leben nicht mehr aushält und dabei selbst zugrunde geht? Treffend zeichnet Ferrante die Beziehungsgeflechte unter Frauen, wie sie sich gegenseitig kontrollieren und bewerten, aber auch sehnsüchtig nach weiblichen Vorbildern für Rebellion sind. Der Text baut eine zunehmend bedrohliche Spannung auf, die untergründig vor sich hin brodelt. Schließlich kommt es zu einem fulminanten Schlussakt, der rückblickend etwas erklärt.
Meike Lauggas
Elena Ferrante: Frau im Dunkeln. Aus dem Ital. von Anja Nattefort. 188 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2019 EUR 22,70