Der ganz normale Antisemitismus
Wien als verschlagen-gemütliche Heimstätte des Antisemitismus ist der Bezugspunkt dieser Skandalöses, Skurriles, Witziges, Trauriges, Empörendes versammelnden Geschichten, Betrachtungen und Analysen, die sich – meist auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen beruhend – mit antisemitischen Einstellungen und (verbalen) Übergriffen in Vergangenheit und Gegenwart als Ingredienz einer österreichisch provinziellen Mentalität auseinandersetzen. Bereits 2001 als Reaktion auf die schwarz-blaue Koalition erschienen, zielt die aktualisierte Textsammlung weiterhin darauf ab das in scheinbar geringfügigen antisemitischen Sprechhandlungen und Haltungen verborgene antidemokratische und gewaltfördernde Potenzial erkennbar zu machen und rassistische Stereotypenbildung zu entlarven. Persönliche Emigrations- und Rückkehrgeschichten, kurze Alltagsbeobachtungen und Anekdoten, fiktionale Annäherungen stehen neben ausgearbeiteten Analysen von politischen Entwicklungen, Restitutionsangelegenheiten und antisemitischen Kontinuitäten in Justiz und Wissenschaft. Neben Fragen jüdischer Identität(en) und Zugehörigkeit(en) sind der politische Umgang mit den Verbrechen der NS-Zeit und die schleppenden, ja widerwilligen Schritte der Wiedergutmachung und Restitution ein zentrales Thema einiger Texte dieser Sammlung wie auch die aktuelle politische Funktionalisierung einer demonstrativen Bekämpfung von Antisemitismus v.a. seitens der ÖVP. Kritisch und resignierend, anklagend und versöhnlich, historisch/politisch spezifisch und allgemein menschlich – der verbindende Impetus dieses Buchs, das nuancenreich die oft tiefe emotionale Verbundenheit mit (einem imaginären) Wien mit der gewaltvollen Realität in Vergangenheit und Gegenwart kontrastiert, bleibt: Wehret den Anfängen!
SaZ
Das kann immer noch in Wien passieren. Alltagsgeschichten. Hg. von Ruth Wodak. 224 Seiten, Czernin, Wien 2024 EUR 22,95