Der Mensch als Weib

Lou Andreas-Salomé kann ohne Übertreibung als eine derjenigen Personen bezeichnet werden, die Psychoanalyse in ihrer frühen Phase wesentlich mitgestaltet und miterlebt hat. Sexualität, Geschlechtsidentität, Religion und Narzissmus, die brisantesten Zeitthemen der vorigen Jahrhundertwende hat sie in ihren Schriften und Forschungen diskutiert. Gisela Brinker-Gabler vergleicht ihren Weiblichkeitsdiskurs mit dem von Luce Irigaray, die ebenfalls das Weibliche als einer homosexuellen Ökonomie unterworfen sieht. Auch in Julia Kristevas Reflexionen zur Innerlichkeit erkennt sie Einflüsse der russischen Intellektuellen. Als zentral für ein Verständnis des Denkens von Lou Andreas-Salomé sieht die Autorin die Auffassung einer Ästhetik des „Bildens“, das sie als vorbegriffliche Einsicht versteht. Diese entsteht in Reaktion auf physische Gegenstände, aber auch auf Erzählungen. Sie erzeugt Empfindungen im lebenden Medium des Körpers, der in dieser Vorstellung als ganzer zum Instrument von Erleben und Erkennen wird. Ein weiterer wichtiger Begriff ist die „Wechselwirkung“: darunter versteht sie eine Art Verflüssigung gegensätzlicher Polaritäten. Ein Zusammenspiel der eher rationalen, „festen“ Sprache, mit dem „flüssigen“ Medium von Bildern gleicht einem Spiegelbild von bewussten und unbewussten Prozessen. Wie Freud war Andreas-Salomé immer bereit, ihre Entdeckungen an sich selbst zu überprüfen. Gisela Brinker-Gabler präsentiert mit ihrem Band einen wunderbaren, sehr anspruchsvollen Wissenschaftsbeitrag über die viel zu wenig bekannte Dichterin und Psychoanalytikerin.

Susa

Gisela Brinker-Gabler: Lou Andreas-Salomé. Bild im Umriss. Eine Lektüre. Aus dem Engl. von Rainer Ansén. 70 Seiten, Königshausen & Neumann, Würzburg 2018, EUR 28,80