gegen über tragen

Ausgehend von einem durch die Shoah bedingten „Notstand der Zeugenschaft“ – der prinzipiellen Infragestellung der Möglichkeit von Zeug_innenschaft und der Fähigkeit für und von sich selbst zu sprechen – analysiert Johanna Bodenstab (1961-2015) Videozeugnisse von Überlebenden der Shoah in Hinblick auf Mutter-Tochter-Beziehungen. Ihre psychoanalytische Zugangsweise drückt sich dabei nicht nur im Verständnis des Mutter-Tochter-Verhältnisses aus, sondern – und darin liegt das Ergiebige des Buches für die (Medien-)Historikerin – in der methodischen Zugangsweise zu den Videointerviews. Neben dem beharrlichen Einbringen der eigenen Rezeption (der Gegenübertragung), der Verwirrtheit, Antipathie oder Identifikation in der Analyse, bietet das Buch viele Anregungen, wie mit Interviews verfahren werden kann, die nicht von der Forschenden selbst geführt wurden. Vor dem Hintergrund dessen, dass in absehbarer Zukunft die letzten Zeitzeug_innen der Shoah gestorben sein werden, eine bedeutende Frage. Bodenstab analysiert die Videos schließlich anhand einzelner Interviewausschnitte, die sie in der eigenen Rezeption nicht mehr losließen. Es geht ihr darin nicht um die narrative Gesamtheit, sondern um die sich in den einzelnen Passagen, die sie „Vignetten“ nennt, momenthaft manifestierenden Traumatisierungen. Aufgrund der behandelten Themen – das Sprechen über Kindstötungen und ermordete Verwandte – auch ein Buch, das die Rezensentin nicht so schnell loslässt. Renée Winter

Johanna Bodenstab: Dramen der Verlorenheit: Mutter-Tochter-Beziehungen in der Shoah. Zur Rezeption und zur narrativen Gestalt traumatischer Erfahrungen in Videozeugnissen. 274 Seiten, Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen 2015  EUR 30,90