Im Zwiegespräch
Auch in ihrem dritten Roman behandelt die Autorin Kaśka Bryla vielschichtige Themen. Die auf einem Wagenplatz bei Leipzig wohnende lesbische Ich-Erzählerin ist am Beginn der Corona-Pandemie 2020 schwer am Virus erkrankt. Nachdem strenge Quarantäneregeln am Wagenplatz so wie an allen Orten herrschen, ist sie zumeist auf sich allein angewiesen. Zwecks Aufheiterung und um der eigenen Einsamkeit zu entfliehen, freundet sie sich mit einem jungen, am Flügel verletzten Krähenbaby an, das sie füttert und vor der Killerkatze beschützt. In dieser Phase beginnt sie ein gedankliches Zwiegespräch mit ihrem 2009 an Lungenkrebs verstorbenen polnischen Vater, mit dem sie vor seinem Tod Tonaufnahmen gemacht hat. Damit will sie dessen Lebensgeschichte verarbeiten. Ihr Vater ist im Zweiten Weltkrieg für Kurierdienste als Jugendlicher in der polnischen Untergrundarmee aktiv, wird aber schließlich 1945 von der Roten Armee in ein Arbeitslager nach Sibirien verbannt. Nur durch eine List kann er überleben und nach drei Jahren krankheitsbedingt entlassen werden. Die Autorin hat sich zahlreicher historischer Quellen bedient, um die Geschichte des Vaters zu begreifen und zu rekonstruieren. Erzähltechnisch dem Stream of Consciousness folgend, wechseln die Gedanken der Ich-Erzählerin konsequent in unterschiedliche Zeitebenen, sodass mehrere rote Fäden entstehen. Das Lesen des Romans verführt dazu, sich intensiver mit den vermittelten Bruchstücken der „zerrissenen polnischen Geschichte“ zu beschäftigen. Anspruchsvoll!
ML
Kaśka Bryla: Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich. 256 Seiten, Residenz Verlag, Salzburg 2025 EUR 26,00
