„Kom niet dichterbij …
… komm nicht näher ran“, so die wortgetreue Übersetzung des Buchtitels, was gleichsam programmatisch für diesen Roman ist. Eine Geschichte zweier Schwestern, die einander sehr nahe stehen. Konsequent erzählt aus der (Ich-)Perspektive der Älteren, Marjolijn. Sie erzählt von Reva, der jüngeren, psychisch fragilen Schwester. Die sich schwer tut mit dem sogenannten Erwachsenwerden. Damit, eigenverantwortlich mit sich umzugehen. Die seit Jahren nach dem Essen kotzt. Deren Identitätswirren sie zermartern, in abgründige Selbstzweifel stürzen und indes unaufhaltsam destruktiv wirken. Reva lässt sich mit Männern ein, die ihr nicht gut tun – als Schülerin mit einem Lehrer, heute als 19-Jährige mit einem Dozenten der Schauspielschule. Diesen psychisch-emotionalen und sexuellen (und institutionellen) Missbrauch vermag sie nur langsam als solchen zu erkennen. Immer wieder wendet sie sich Hilfe suchend und zugleich jedwede Unterstützung verweigernd an ihre Schwester. Doch nicht Revas „Krankheit“ steht für Marjolijn im Mittelpunkt, sondern ihre eigene Angst um die Jüngere. In der Auseinandersetzung mit Reva spiegelt Marjolijn unweigerlich auch ihr eigenes Tun und Lassen. Sie kämpft mit inneren Widersprüchen, die geprägt sind vom Bedürfnis, Reva „von ganz nah“ zu begreifen und zugleich einen „gesunden“ Abstand zu gewinnen. „Für Reva zu sorgen, ist eine stellvertretende Form, für mich selbst zu sorgen. Solange ich mit ihren Problemen beschäftigt bin, brauche ich über meine nicht nachzudenken.“ Ein in lebendig-authentischem Duktus und literarisch wunderbar erzählter Coming-of-Age-Roman von zwei einander in tiefer Verbundenheit zugewandten Frauen, deren Loslösung voneinander notwendig für ihre Leben ist, was jedoch weder einen Bruch noch eine Trennung zur Folge haben muss. Karin Ballauff
Erna Sassen: Komm mir nicht zu nah. Aus dem Niederl. von Rolf Erdorf. 174 Seiten, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2016 EUR 19,50