Liebe für die Liebe, Liebe für den Hass

Wenn sie auf dem Weg in eine gerechtere Gesellschaft über Gefühle stolpert, läuft Şeyda Kurt nicht einfach weiter. Schon in ihrem Debüt Radikale Zärtlichkeit blieb sie stehen und sah sich die Konzepte und Vorstellungen über die Liebe in unserer Gesellschaft genauer an. Weil man als Person, die über linken Feminismus, Rechtsextremismus und Rassismus schreibt, selten nur über Zärtlichkeit stolpert, hat Şeyda Kurt gleich nochmal nachgelegt. HASS – Von der Macht eines widerständigen Gefühls nennt sie ihren Ausflug in die Welt der Wut, der Aggressionen und des Hasses. Mit Liedtexten von Berliner Rapper:innen, Erzählungen über persönliche Erfahrungen und Berichten über Gerichtsverhandlungen nähert sie sich einem Gefühl, das in der westlichen Welt selten existieren darf. Dabei kann Hass auch etwas Positives sein – „Der Hass kann verändern, der Hass kann transformieren.” Hass könne sowohl lähmen als auch danach schreien, durchzuhalten, schreibt Kurt und erkennt damit die Ambivalenz und Gleichzeitigkeit an, die mit diesem Gefühl einhergeht. Beim Versuch, so viele Aspekte wie möglich zu beleuchten, erkennt sie: „Der Hass ist so vielfältig wie die Hassenden selbst”. In ihrem Essay schafft es Kurt, die Uneindeutigkeit des Hasses zu entwirren. Dabei macht sie auf Ungerechtigkeiten aufmerksam, widerlegt Mythen und stellt sich gegen die Meinungen antiker Philosophen. Sie nimmt die Leser:innenschaft mit auf den Weg, die Fragen zu beantworten, die sie sich selbst gestellt hat: Was hat Hass mit Neoliberalismus zu tun? Was unterscheidet individuellen Hass von kollektivem Hass oder männlichen Hass von weiblichem Hass? Soll man überhaupt hassen und wenn ja, wen? Eine experimentelle Abhandlung ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die einen überrascht, bereichert und mitfühlen lässt.
Michaela Koffler
Şeyda Kurt: HASS. Von der Macht eines widerständigen Gefühls. Essay. 208 Seiten, Harper Collins, Hamburg 2023 EUR 18,50