Linke Frauenszene anno – Berlin um 1900

Paula Thiede wurde 1898 zur Gründungsvorsitzenden der Gewerkschaft „Verband der Buch- und Steindruck-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands“ und füllte diese Funktion bis zu ihrem Tod aus. In den 1890er Jahren engagierte sich Thiede in den Arbeitskämpfen im Berliner Druckereigewerbe und für die gewerkschaftliche Arbeit von und für Frauen. Nach harten Jahren als junge Hilfsarbeiterin (ab 1884) wurde sie zur tragenden Protagonistin dessen, was wir heute als linke Frauenszene im Arbeitermilieu im „Zeitungsviertel“ von Berlin-Kreuzberg bezeichnen würden. Am Ende der Lektüre fühlt sich die Leserin fast als sei sie selber mit dabei gewesen – so plastisch beschreibt der schmale Band, auf Grundlage spärlicher, umsichtig und kreativ ausgewerteter Quellen, die Geschichte dieses ‚verborgenen‘ Frauennetz­werkes in der männlich dominierten Arbeiterbewegung: Arbeitskampf verwandelt sich vom abstrakten Begriff in gelebte Kleinarbeit rund um den gewerkschaftlichen Arbeitsnachweis; die gewerkschaftliche Organisierung schreitet voran, weil die jungen Hilfsarbeiterinnen über Lesegruppen in privaten Wohnungen und alltägliche Interaktion in die ‚Szene‘ eingebunden werden; als das Frauennetzwerk wächst, kommt es zu den unvermeidlichen Konflikten, denen Thiede mit ihrem unnachahmlichen „Leitungsstil“ begegnet, der die Integration abweichender Interessen mit klarer Richtung verbindet. Es ist tatsächlich „geradezu aberwitzig“, dass wir erst jetzt mehr über Thiede und ihr Milieu erfahren.

Susan Zimmermann

Uwe Fuhrmann: „Frau Berlin“. Paula Thiede (1870 – 1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschafts­vorsitzenden. 160 Seiten, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2019 EUR 17,60