„Queer Peer“ – Subkultur als Ressource

Sophinette Becker war eine kritische Denkerin, die ihre psychoanalytische Praxis mit wachem gesellschaftskritischem Blick betrieb, sensibel für kulturell Tabuisiertes und politisch streitbar. Sie verwehrte sich gegen die Neuromythologie des Neo-Biologismus ebenso wie gegen poststrukturalistische „Auflösungsversuche“ des Körperlichen in bloße frei wählbare Konstruktionen. Becker plädiert für den genauen Blick auf die subtile Anpassung der Subjekte an die noch undurchschauten Herrschaftsstrukturen (und die Ausbeutbarkeit) von heute und morgen. Für sie ist klar: Jede psychosexuelle Entwicklung, jede sexuelle Orientierung und jede Geschlechtsidentität ist grundlegend konflikthaft. Es gibt hier keine einfachen „normalen“ Lösungen, denn das Unbewusste und Irrationale ist in uns allen permanent wirkmächtig – frei nach Judith Butler ist somit auch die scheinbar konventionelle Heteronormativität „queerer als sie selbst von sich weiß“. Die Artikel mit so provokanten Titeln wie „Von der Bosheit der Frau“ oder „Bisexuelle Omnipotenz als ‚Leitkultur‘?“ nehmen die ethische Verpflichtung der psychoanalytischen Theorie und Praxis ernst und bieten neue Einsichten in die verschlungenen Gebiete weiblicher Perversion, der Psychosomatik und auch dem Einfluss des Nationalsozialismus auf den Umgang mit (oder das Umgehen) der Analyse als Aufklärung des Verdrängten. In diesen ausgewählten Texten von 1984 bis 2019 wird Beckers eigene Lust am Lernen spürbar. Die Artikel sind originell, inspirierend und auch aufgrund des manchmal selbstironischen Stils spannend zu lesen.

 Bettina Zehetner

Sophinette Becker: Leidenschaftlich analytisch. Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse, 329 Seiten, Psychosozial Verlag, Gießen 2021 EUR 35,90