Raus aus dem Paradiesgarten

Eine märchenhaft versprachlichte Bildanalyse schafft Lisa Kränzler mit ihrem kleinen Buch Mariens Käfer anhand des Gemäldes „Das Paradiesgärtlein“ eines des Oberrheinischen Meisters von 1410/1420. Im Stil eines Kunstmärchens erzählt sie die Geschichte eines Käfers, der auf dem Bild eher unspektakulär platziert und am Rande zu sehen ist. Jetzt wird er zum Handlungsträger, dem das Leben im Paradiesgärtlein der Mutter Gottes zu langweilig wird. Er hat dort nichts zu tun als vom „Duft der Blumen und der Liebe Mariens zu leben“, außerdem Maiglöckchen klingen zu lassen, Blüten zu polieren und anderes Erbauliches. Der erste Teil des Büchleins handelt also vom Ausbruch des Käfers aus der Enge des Gartens, im zweiten Teil hat die mit dem Fontane-Literaturpreis ausgezeichnete Autorin ein Glossar angehängt, in dem vordergründig Begriffe erläutert werden, dann aber eine Parallelgeschichte in der Gegenwart erzählt wird, in der es um ein Treffen mit einem Käferforscher geht. Die Szenen sind oft pointiert, wie hier: „Am fünften Tag schuf Gott die Tiere, am sechsten Tag die Plage des Planeten.“ Oder wenn sie die Polemik des Forschers zitiert, der bei Käfern immer gefragt wird, ob sie Schädlinge seien: „Dann sage ich: Ja, alles Schädlinge, nur der Mensch nicht.“ Manches dehnt sie überraschend in die Länge, lässt sich ausgedehnt über Sex bei Käfern aus. Interessant sind hingegen die Analysen der Hierarchien im Jenseitsland, also des Kastensystems der Paradiesfauna, oder die Monologe der Prachtlibelle. Und besonders schön eine Erklärung, wenn im Glossar unter „eine wichtige Tätigkeit im Paradiesgärtlein“ „dem Herrn danken“ steht: „Der Dankbarkeitsappell ist ein Mittel, den große starke Tiere einsetzen, um kleine schwache machtlose Kreaturen daran zu erinnern, dass ihnen ihre ‚Privilegien‘ jederzeit entzogen werden können.“ Jedenfalls ein außergewöhnliches Buch.
Susa
Lisa Kränzler: Mariens Käfer. 170 Seiten, Verbrecher Verlag, Berlin 2024 EUR 20,00