Thürmer-Rohrs philosophischer Vorlass

Mit der Mittäterschaftsthese hat sich Christina Thürmer-Rohr in den 1990er Jahren in feministische Debatten eingeschrieben, indem sie auf die aktive Teilhabe von Frauen am Nationalsozialismus hinwies und damit grundsätzlich das Mitwirken von Unterdrückten an der Aufrechterhaltung von Unrechtssystemen befragte. Damals wie heute geht es ihr um die Handlungsmacht von Menschen, häufig mit der Perspektive auf jene der Frauen*. Feministische Opferkonzepte waren damit durcheinander gekommen. Sie theoretisierte aber auch, dass im „Zauber des Anfangens“ Neues eröffnet werden kann. Im Spannungsfeld von „Fremdheiten und Freundschaften“ als Bedingungen des Weltzugangs, des Denkens und Agierens sind nun 20 Texte von 1997 bis heute versammelt worden, wovon 13 noch unveröffentlicht waren. Es ist eine Rückschau, aber auch ein Überblick über das Oeuvre dieser Denkerin, die vielfach mit Hannah Arendt arbeitet, sie erklärt, verwendet, weiterdenkt, und Phänomene unserer Gesellschaft scharfsinnig analysiert, den Finger in heikle Stellen legt und Selbstverständnisse hinterfragt.
Besonders berührend ist der letzte Text, in dem sie sich als über 80-Jährige nicht nur mit Vergänglichkeit in radikaler Weise beschäftigt, sondern dem Anfangen auch das Aufhören gegenüberzustellen versucht. Eine große Leseempfehlung mit viel Inspiration für die Freude am Denken.

Meike Lauggas

Christina Thürmer-Rohr: Fremdheiten und Freundschaften. Essays. 284 Seiten, transcript Verlag, Bielefeld 2019, EUR 29,99