Viele Orte. Überall.

Als Tochter bengalesischer Eltern in London geboren, in Rhode Island aufgewachsen und derzeit ansässig in New York, schrieb die Pulitzerpreisträgerin Jhumpa Lahiri ihren aktuellen Roman während eines mehrjährigen Aufenthalts in Italien. Die Protagonistin in „Wo ich mich finde“ ist allerdings eine Frau, die ihren italienischen Geburtsort nie verlassen hat. – Nach Orten sind dennoch die meisten (kurzen) Kapitel benannt (Auf der Piazza; Im Supermarkt; Auf der Straße; Bei mir zu Hause; Am Meer; …). Orte, an denen sich die Protagonistin gerade befindet und die ihr bekannt und vertraut sind. Im vorangestellten Motto spricht Italo Svevo davon, dass ihn bei jedem Ortswechsel eine ganz große Traurigkeit ergreife und aufwühle. Eingangs („Auf dem Bürgersteig“) beschreibt Lahiri einen Gedenkstein, der auf den Tod eines 44- jährigen Mannes an dieser Stelle hinweist und dem die Protagonistin weiträumig ausweicht – ein Bild dafür, dass sie den Tod zu „umgehen“ versucht? Was sie aber in einer eigentümlichen Statik fremd sein lässt in ihrer Welt – wie hinter einer Glaswand beschreibt sie das Treiben um sich her, zu dem sie sich nie zugehörig fühlt, bis sie sich doch noch auf eine (imaginäre) Grenze zubewegt… Ein wunderbarer Text mit einer anschaulichen Sprache, die die Orte wie in einem Film entstehen lässt – fern durch Betrachtung, nah durch Sinnlichkeit der Wahrnehmung – über eine scheinbar unspektakuläre Entwicklung und zugleich so etwas Großes wie Existenz, Liebe und Vergänglichkeit.

Karin Reitter

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde. Aus dem Ital. von Margit Knapp. 160 Seiten, Rowohlt, Hamburg 2020 EUR 20,50