Weibliche Postmoderne aus der Slowakei

Wer kennt hierzulande die slowakische Autorin Rút Lichnerová? Vielleicht ändert daran etwas der bereits 1998 auf Slowakisch erschienene, nun auf Deutsch vorliegende schmale Prosaband mit dem täuschend herzigen Titel „Das blinde Fischlein“. Der autobiografisch anmutende Text hebt an mit einer Kindheitserinnerung der Ich-Erzählerin an ihren Vater, einen gläubigen Frauenarzt in der slowakischen Provinz. Das Erinnern, das in kurzen, schlaglichtartigen Szenen die familiäre, gesellschaftliche und politische Situation der kommunistischen 50er-Jahre aufblitzen lässt, gestaltet sich hier als Annäherung an diese schillernde und dominante Vaterfigur. Die Ich-Erzählerin erscheint im dichten, das weitere Leben grundrissartig enthaltenden ersten Kapitel als eigenwilliges, unangepasstes, sich bereits eigene ästhetische Maßstäbe entwerfendes Mädchen, das sich seine eigenen Urteile und Überlebensregeln erschafft. Dieser Vaterbezug begleitet die nun als Lu/Lucia auftretende Erzählerin, eine Kunsthistorikerin, ein Leben lang, prägt ihre Beziehungen zu Männern und beeinflusst ihr Schreiben. Sprache als Medium der Abbildung, der Erinnerung, der Wirklichkeitskonstruktion ist zentral in diesem Text, dessen vielfältige Strategien der Veruneindeutigung – das Spiel mit der Erzählperspektive, der unvermittelte Wechsel der Zeit- und Wirklichkeitsebenen, die Verschränkung von (Traum)-Bild und Sprache, Intertextualität, die Selbstreflexion des Erzählens – ihn offenbar nicht zu Unrecht zu einem wichtigen Werk der slowakischen Postmoderne machen.

SaZ

Rút Lichnerová: Das blinde Fischlein. Aus dem Slowak. von Sigrid Maria Roswitha Eberstaller. 120 Seiten, Drava, Klagenfurt 2019 EUR 18,90