Solidarisch Handeln
Gabriele Winker ist Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution. Sie war Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der Technischen Universität Hamburg. Wir befragten sie zu ihrem im März 2021 erschienenen Buch „Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima“
WD: Zunächst, was verstehst du unter Care-Arbeit und warum stehen gerade derzeit Sorgearbeitende unter Stress?
Gabriele Winker: Unter dem Begriff der Care-Arbeit werden sowohl die Gesamtheit der familiären und ehrenamtlichen Sorgearbeit für andere, die Sorgearbeit für sich selbst, sowie die entlohnten Erziehungs-, Bildungs-, Gesundheits- und Pflegetätigkeiten in Institutionen wie Krankenhäusern, Seniorenheimen oder Kindertagesstääten (Kitas) gefasst. Ziele der Sorgearbeit sind grundsätzlich die Entwicklung und Erhaltung von körperlichen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten. Damit stellt die Care-Arbeit ein lebensnotwendiges Element jeder Gesellschaft dar. Ohne die vielen Menschen, die tagtäglich Kinder erziehen, Angehörige unterstützen oder pflegen und Menschen in Not helfen, würde diese sofort zusammenbrechen.
Trotz dieser hohen Bedeutung von Care-Arbeit wird ihr Umfang selbst von frauen- oder care-politisch Interessierten nach wie vor unterschätzt. Mit Daten des Statistischen Bundesamts lässt sich zeigen, dass in Deutschland knapp zwei Drittel aller Arbeitsstunden Care-Tätigkeiten sind. Und dieser Prozentsatz wird in Zukunft weiter zunehmen, da es zwar möglich ist, immer schneller Güter zu produzieren, wir aber nicht immer schneller Menschen beraten, heilen oder versorgen können, ohne dass es zu großen Qualitätsverlusten kommt.
Das Problem ist nun, dass im neoliberalen Kapitalismus für die unentlohnte Sorgearbeit kein Zeitfenster mehr vorgesehen ist. Denn im Unterschied zu den Zeiten, in denen das Ernährermodell vorherrschend war mit der sogenannten Hausfrau, die für die gesamte familiäre Sorgearbeit zuständig und meist finanziell vom Ehemann abhängig war, ist jetzt im Neoliberalismus jede erwerbsfähige Person für das eigene Einkommen verantwortlich – unabhängig von der Anzahl der zu versorgenden Kinder oder der zu betreuenden Angehörigen.
Entsprechend sind in Deutschland in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends die Realeinkommen gesunken, den Familienernährerlohn gibt es kaum noch. Auch steigt die Erwerbstätigenquote von Frauen immer weiter an und liegt inzwischen bei knapp 73%. Sozialstaatliche Leistungen wurden schrittweise abgebaut. Stattdessen wird das Konzept der Eigenverantwortung betont. Dazu kommt noch, dass die Familienpolitik in einer solchen Situation nicht zielstrebig die familiäre Sorgearbeit unterstützt, sondern sich seit 2003 das Ziel gesetzt hat, neben der Erhöhung der Geburtenrate die Frauenerwerbsbeteiligung zu steigern und damit explizit Wachstumsziele zu verfolgen.
Dieses neoliberale Modell führt nun für Menschen mit umfangreichen Sorgeaufgaben, dies sind insbesondere Frauen, zu Stress und ist auf die Dauer nicht durchzuhalten, zumal gleichzeitig die Anforderungen in beiden Arbeitsbereichen zugenommen haben: Auf der einen Seite flexibilisierte Erwerbsarbeitszeiten bis in den Feierabend und Urlaub hinein. Auf der anderen Seite steigende Anforderungen an die Kindererziehung, immer wichtiger werden u.a. die gesunde Ernährung von Kindern oder nicht nur in Zeiten von Corona die Betreuung der Hausaufgaben, ohne die manche Kinder in der Schule verloren wären. So geraten viele Menschen an die Grenzen ihrer Kräfte, wenn sie versuchen, neben den hohen Anforderungen der Erwerbsarbeit gut für sich und andere zu sorgen.
WD: Seit der Covid-Pandemie werden vermehrt Berichte über die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals und über die häusliche familiäre Sorgearbeit in den Medien veröffentlicht. Du lieferst ja in deinem Buch auch Zahlen dazu, dass 60% der unentlohnten Sorgearbeit und 80% der entlohnten Pflegearbeit von Frauen geleistet wird. Was hat sich durch die Pandemie verschärft?
Gabriele Winker: Zunächst hat sich der bereits vor Corona bestehende Personalnotstand im Pflegebereich der Krankenhäuser und in der stationären und ambulanten Altenpflege drastisch verschärft, da pandemiebedingt in den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen zusätzliche Aufgaben anfallen. Kranken- und Altenpflegekräfte, die schon vor der Pandemie aufgrund von Arbeitsüberlastung kaum in Ruhe mit Patient*innen und Bewohner*innen sprechen konnten, sind jetzt mit teils todkranken Menschen konfrontiert und haben kaum Zeit, diesen auch nur wohltuend die Hand zu halten. Aber auch für Eltern und pflegende Angehörige hat sich die alltägliche Stress-Situation zugespitzt. So müssen Eltern häufig eine Ganztagesbetreuung ihrer Kinder organisieren, da Schulen und Kitas nur teilweise öffnen, und häufig dazu im Home-Office die eigene Berufstätigkeit realisieren. Sie sollen dabei auch noch eine gute Lehrerin, Hauswirtschafterin und Trösterin sein. Ebenso ergeht es pflegenden Angehörigen, die vorher bereits hoch belastet, jetzt zusätzliche Aufgaben übernehmen, da beispielsweise die Tagesbetreuungseinrichtungen geschlossen sind.
Gleichzeitig hat sich in diesem letzten Corona-Jahr auch etwas zum Positiven geändert. Jetzt erfahren wir noch drastischer, wie abhängig wir von der Arbeit insbesondere von Pflegekräften und Ärzt*innen sind. Heute scheint es mir so, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich darin einig ist, dass Gesundheit keine Ware sein soll und Krankenhäuser nicht nach Renditegesichtspunkten geöffnet oder geschlossen werden dürfen. Auch das System der Fallpauschalen, nach denen vor allem technisch aufwändige Operationen Geld einbringen, nicht aber die Pflege, steht verstärkt in der Kritik. Auch wird die Forderung laut, für Kinder, Jugendliche und Eltern das Bildungssystem auszubauen und etwa mehr Lehrer*innen und Erzieher*innen einzustellen.
WD: Du bist selbst im Netzwerk Care Revolution aktiv. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es ein überregionaler Zusammenschluss von unten, um u.a. die Arbeitsbedingungen von Care-Beschäftigten sowie die Rahmenbedingungen für familiäre Sorgearbeit zu verbessern. – Dabei geht es nicht nur um die schlechte Entlohnung der zumeist weiblichen und migrantischen Beschäftigten. Bitte benenne die weiteren Ziele, die mit dem Netzwerk verknüpft sind, die auch in deinem Buch thematisiert werden.
Gabriele Winker: Mit der Transformationsstrategie der Care Revolution plädiert das Netzwerk Care Revolution, das seit sieben Jahren überregional im deutschsprachigen Raum aktiv ist, für einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Wir setzen uns für ein gutes Leben ein, in dem alle Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können – und zwar umfassend, ohne jemanden auszuschließen und nicht auf dem Rücken anderer. Auch nicht unter Inkaufnahme der Zerstörung ökologischer Systeme.
WD: Du gehst von vier Bereichen aus, in denen Änderungen für einen Systemwandel abseits der Profitlogik stattfinden müssen. Kommen wir zum ersten Aspekt der Umverteilung der Arbeit und Arbeitszeitverkürzung!
Gabriele Winker: Zunächst ist eine drastische Verkürzung der allgemeinen Erwerbsarbeitszeit, als erster Schritt auf 30 Stunden pro Woche, erforderlich, damit sich alle an der unentlohnten Sorgearbeit beteiligen können. Alle erwerbsfähigen Personen haben dann höchstens eine kurze Vollzeit mit aus Sicht der Beschäftigten steuerbaren flexiblen Langzeitkonten, so dass auch die individuelle Zeitsouveränität steigt. Grundlegend ist, dass diese Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit mit einem Lohnausgleich für schlechter verdienende Beschäftigtengruppen einhergeht sowie ohne Erhöhung der Arbeitsintensität verwirklicht wird. Durch die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit verringert sich das gesamte Volumen der Erwerbsarbeit und die Gesellschaft ist gezwungen, eine Debatte über den Stellenwert einzelner Wirtschaftsbereiche zu führen: Die Produktion welcher Güter soll abgebaut werden und in welchem Umfang sollen gleichzeitig beispielsweise das Gesundheits- und Bildungswesen ausgebaut werden? Entsprechende ökonomische Schwerpunktsetzungen können einen großen Beitrag dazu leisten, die Erderwärmung tatsächlich auf 1,5 Grad zu begrenzen.
WD: Das zweite Veränderungsfeld ist, ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) gesellschaftlich zu verwirklichen. Wir haben in Österreich eine bedarfsorientierte Mindestsicherung (Sozialhilfe). Worin siehst du den Unterschied zwischen diesen beiden Modellen?
Gabriele Winker: Während eine bedarfsorientierte Mindestsicherung ausschließlich jenen Personen zugutekommt, die über keine angemessenen eigenen Mittel verfügen, um den eigenen Bedarf bzw. den ihrer Angehörigen zu decken, erhalten ein bedingungsloses Grundeinkommen alle Menschen. Das BGE muss nicht beantragt werden und ist damit eine individuelle Absicherung, die jedem Menschen von Geburt an zusteht.
WD: Der dritte Aspekt bezieht sich auf die unmittelbare demokratische Teilhabe, dass die Mitbestimmung in Pflegeeinrichtungen wichtig ist.
Gabriele Winker: Notwendig ist über ein BGE hinaus, als kollektive Absicherung auch die öffentliche soziale Infrastruktur auszubauen, sie gebührenfrei zu gestalten und deren Qualität durch Einstellung von mehr Fachpersonal zu steigern. Diesen Ausbau öffentlicher Infrastruktur gilt es demokratisch zu gestalten, da Menschen am besten selbst beurteilen können, was sie benötigen. Dies erfordert umfassende Mitbestimmungsrechte nicht nur für Beschäftigte, sondern auch für die jeweiligen Nutzer*innen. Voraussetzung einer solchen Demokratisierung ist es, den bisher vorherrschenden Trend zu Privatisierungen zu stoppen und gleichzeitig die Vergesellschaftung all derjenigen Institutionen und Unternehmen voranzutreiben, die keine umfassende Mitsprache der Nutzer*innen und der Beschäftigten erlauben.
WD: Der vierte Aspekt handelt von den Spielwiesen, wo wir unsin Gemeinschaftsprojekten gegenseitig weiterentwickeln. Gemeint sind Gemeinschaftsgärten, Nachbarschaftszentren, Hausprojekte, Landwirtschaftsgenossenschaften usw.
Gabriele Winker: Für mich sind die vielfältigen Gemeinschaftsprojekte bzw. Commons im Stadtteil oder auf dem Dorf keine Spielwiesen, sondern politisch enorm wichtig. Sie probieren heute bereits neue Wege aus und sollten deswegen durch staatliche Mittel finanziell unterstützt werden. Diese Projekte machen bereits heute wichtige Erfahrungen mit vergemeinschaftetem Besitz und organisieren ihre Entscheidungsprozesse kollektiv. Dies sind Leuchttürme, die schon ein wenig auf die Zukunft hinweisen, sich stark an ökologischen Zielen orientieren und auch Lebensweisen jenseits der Kleinfamilie attraktiv erscheinen lassen.
WD: Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen!
* Gabriele Winker: Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. 211 Seiten, transkript, Bielefeld 2021, EUR 15,00