Zucker zaubert

Während auf den Straßen Wiens die 1848er-Revolution niedergeschlagen wird, plündern Dita und ihr Kollege Georg einen Sack Lebensmittel. Die Kolonialzuckerfabrik in der Josefstadt steht in Flammen. „Sie werden uns aufhängen”, murmelt er. Ditas Lachen ist leise, fast kalt: „Ist doch gar kein Mast mehr frei.“ Die Ingenieurstochter Mathilde ist zu klug und tüchtig, um ihre Zeit mit Näharbeiten zu verschwenden. Die Zukunft, der Fortschritt, das Geschäft mit dem Rübenzucker rufen nach ihr. „Später. Wenn wir verheiratet sind“, lächelt Mathildes Verlobter und zupft die Grashalme von ihrem Reifrock. Von Mary Prince, einer ehemaligen Sklavin auf karibischen Zuckerrohrfeldern, über Paula und Frances, die sich in den 90ern auf einer Sprachreise kennen- und lieben lernen, bis hin zur Wiener Schülerin Kaja verwebt Ursula Knoll gekonnt Lebens- und Liebesgeschichten. Der Zucker, das weiße Gold, ist dabei nicht süßes Beiwerk, sondern der Rahmen der aus wechselnden Perspektiven erzählten Episoden und begleitet uns von London bis ins burgenländische Siegendorf. Der Produktionsprozess und die Produktionsverhältnisse der Zuckerindustrie sind Grundlage von Reichtum, Erfolg, Niedergang und Elend der Protagonist*innen. Zucker ist ein kurzweilig inszenierter und gut recherchierter historischer Roman, dem es gelingt, Lebensbedingungen und -entscheidungen von Frauen über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg zueinander in Beziehung zu setzen. Sprachlich vorzüglich erzählt und ungesüßt, wie das Leben.
Dunja Chinchilla
Ursula Knoll: Zucker. 264 Seiten, Edition Atelier, Wien 2025 EUR 25,00