Zwischenwelten
Isor ist ein wildes Kind. Sie tobt, ist wütend und reißt oft aus. Nicht selten bringt sie ihre Eltern zur Verzweiflung. Dennoch verfügt Isor über einige erstaunliche Talente, so kann sie etwa auf lautmalerische Art fremde Sprachen imitieren. Die Mutter erkennt die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Kindes. Sie weiß, dass Isor sich mit etwas auseinandersetzt, „das wir nicht sehen und das extrem mächtig ist“. Dem Vater dagegen macht die Kleine Angst. Ihren unkontrollierten Gefühlsausbrüchen gegenüber fühlt er sich hilflos. „Ich war nicht dafür gemacht, der Vater eines solchen Kindes zu sein“, bekennt er. Im ersten Teil von Hunger und Zorn umkreisen die Eltern ihre Tochter in abwechselnden Sequenzen. Einmal nähern sie sich an, dann wieder treibt es sie von ihr fort. Wegen eines Wasserschadens in der Wohnung bittet die Mutter den Nachbarn Lucien, auf Isor aufzupassen. Zwischen dem alten Mann und dem ungewöhnlichen Mädchen entwickelt sich eine enge Freundschaft. Der zweite Teil des Buches wird aus der Perspektive des Nachbarn erzählt. Im dritten und eindrücklichsten Teil des Romans kommt schließlich Isor selbst zu Wort. Und sie hat einiges zu sagen. Mit Hunger und Zorn ist Alice Renard ein mitreißendes Debüt gelungen, das durch seine poetische, unsentimentale Dichte besticht.
Ute Fuith
Alice Renard: Hunger und Zorn. Aus dem Franz. von Katharina Meyer und Lena Müller. 160 Seiten, Unionsverlag, Zürich 2025 EUR 22,70