Keine Ordnung und ein halbes Leben

Die 38-jährige Erzählerin führt die Lesenden durch die vollgestopfte Wohnung ihrer Mutter, nachdem diese auf der Intensivstation im Alter von 69 Jahren verstorben ist. Bruder und Schwester, zwei Söhne, ein Partner und der Vater werden in die, einem Delirium ähnliche, Konfrontationstherapie eingeflochten und gleichzeitig ferngehalten. Die Protagonistin muss sich alleine durch den Hort und die finanziellen wie emotionalen Nöte ihrer Mutter arbeiten, um in einem wochenlangen Prozess zu realisieren, dass sie endgültig loslassen muss. Die Mutter hatte stets zu viel gearbeitet, war alleinerziehend, seit kurzem pensioniert und ist nun für immer aus dem Leben geschieden. Inmitten der Gleichzeitigkeit von Mangel und Verschwendung entstehen gesellschaftstheoretische Erklärungen, womit die 1986 in der ehemaligen DDR geborene Autorin an ihre bisherigen Veröffentlichungen über Klassenbewusstsein und die marginalisierte Rolle der Frauen und Mütter innerhalb der Arbeiter*innenklasse anschließt. In Rückblenden erzählt sie von der Beziehung zu ihrer Mutter und deren Wohnung, in der ein Mensch lebte, dessen Wünsche und Bedürfnisse nie von Bedeutung waren. Während die Erzählung langsam voranschreitet, schildert die Protagonistin in vielen Facetten ihre Überforderung und ihre Wut. Die Lesenden sind in diesem zweiten literarischen Text von Marlen Hobrack dazu eingeladen, die offenbarte Intimität zu würdigen und in der eigenen Geschichte die Verwobenheit von Privatem und Politischem aufzuspüren.
anita inzinger
Marlen Hobrack: Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt. 240 Seiten, Harper Collins, Hamburg 2024 EUR 25,50