Klassische Geschlechterkonflikte
Nach ihrer viel beachteten Autobiografie weiter leben. Eine Jugend (1992) wurde Ruth Klüger (1931-2020) auch als Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin, Germanistin und Hochschullehrerin bekannt. Nun liegt ihr Essay-Band aus 1996 Frauen lesen anders als Neuausgabe vor – ergänzt um den Text Das muss ein Mann mir sagen: Kleists Frauenbild (2004). Der titelgebende Essay leuchtet notorisch blinde Flecken des patriarchal geprägten Lesens aus, u.a. am Beispiel von Othello, Woyzeck sowie Kabale und Liebe. George Tabori und Marcel Reich-Ranicki zählten diese – nach ästhetischen Kriterien – Meisterwerke zu den schönsten Liebesgeschichten, obwohl die Frauen erdrosselt, erstochen bzw. vergiftet werden. Könnte man, so fragt Ruth Klüger, denn auch Kleists Penthesilea und Hebbels Judith in diesen Kanon der Liebesdramen reklamieren, ohne jedes Befremden über die Gewaltakte an den Männern? Über fünf Jahrhunderte, von Grimmelshausen, Goethe und Kleist über Stifter und Schnitzler bis zu Erich Kästner und Erich Hackl spannt sich der Bogen der elf Essays. Sie erhellen, wie Konflikte aus unvereinbaren männlichen und weiblichen Ansprüchen an das Leben in literarischen Versuchsanordnungen jeweils verhandelt wurden. Kleist etwa sei weder ein Vorreiter des Feminismus, noch erscheine das Patriarchat bei ihm in einem positiven Licht. Aber er sei modern, denn er habe in „dramatischen Experimente[n]“ wie kein anderer „das eigentliche Wesen von Mann und Frau, miteinander und in der Gesellschaft“ erforscht und festgeschriebene Geschlechterrollen gesprengt. Klüger führt dies nicht nur an Penthesilea und Das Käthchen von Heilbronn äußerst sachkundig und überzeugend aus, mit Witz und großartig formuliert. Unbedingte Empfehlung!
Silvia Zendron
Ruth Klüger: Frauen lesen anders. Hg. von Gesa Dane, 262 Seiten, Wallstein, Göttingen 2024 EUR 26,50