Wie den eigenen Weg finden, ohne die anderen zu verlieren?

Das Buch Keiner bleibt zurück der Schweizerin Michèle Minelli basiert auf den Inputs einer Schreib-Insel mit Jugendlichen und ist somit ein direkt aus dem Leben gegriffenes Literaturexperiment, dessen Ergebnis an Spannung kaum zu überbieten ist. Als Jugendbuch ab 12 über Angst und Stress während der Schullaufbahn, bei der Berufswahl und generell beim Erwachsenwerden empfohlen, will es dies mit einem verwobenen Erzählreigen der gemeinsam erarbeiteten fiktiven Figuren einlösen. Am Beginn beeindruckt es mit erzählerischer Gewandtheit und detailreicher Zeichnung der Charaktere, was das Buch als Leseempfehlung für Jugendliche auszeichnen würde. Leider wird diese Qualität nicht ganz durchgehalten: Als zum Ende hin das Gewaltthema dem Lesepublikum ohnehin schon durch die drastische Schilderung starke Nerven abverlangt, stellt Minelli hier fürs Verarbeiten weniger Platz zur Verfügung, als angebracht gewesen wäre: Die Psychologie der Gewalt kann schwer auf ein paar Seiten abgehandelt werden. Auch das Fehlverhalten einer Lehrperson durch Alkohol verdient eine ernstere Auseinandersetzung, als bloß das in Panik geratene Innenleben des Lehrers nach außen zu kehren – zumal die Zielgruppe des Buches Schülerinnen und Schüler sind. Dass sich am Schluss alles in zu viel zu weisheitstriefendem Wohlgefallen auflöst, hat vielleicht den Vorteil eines Happy Ends, das den jungen Leserinnen und Lesern nach den gehäuften Katastrophen wahrscheinlich gut tut. In Anbetracht der Verlagsempfehlung ab 12 ist den Jüngeren aber eine Begleitung beim Lesen zu wünschen, die die gut gewählten, aber sehr ernsten Themen mit ihnen gemeinsam bewältigt.
Christine Müller
(Ab 12 J.)
Michèle Minelli: Keiner bleibt zurück. 224 Seiten, Jungbrunnen, Wien 2025 EUR 19,00