Überleben, ohne sich schuldig zu machen

Tief in die totalitäre Vergangenheit Albaniens führt Lea Ypi die Lesenden mit ihrem neuen Roman, in dem sie Geschichtsreflexion, biografische Recherche und Fiktion gekonnt verschränkt. Nach dem Bestseller Frei folgt damit eine weitere mit furiosem erzählerischem Zugriff gestaltete Geschichtsstunde: Diesmal geht die Autorin, Politikwissenschaftlerin und Philosophin weiter zurück in die Vergangenheit. Auf den Spuren ihrer Großmutter Leman Ypi, Jahrgang 1918, durchquert sie das „Zeitalter der Extreme“, wie es im Untertitel mit Anspielung auf Eric Hobsbawm heißt. Sie recherchiert dafür in den ehemals geheimen Aufzeichnungen der Staatssicherheit und erfindet Anekdoten. So entsteht eine vielschichtige Geschichtsreflexion, beginnend mit der ethnischen Säuberung zwischen Griechenland und der Türkei in den 1920er Jahren über die kommunistische Phase Albaniens, in der Ypis Familie Erniedrigungen erdulden musste, bis hin zur jahrelangen Inhaftierung ihres Großvaters Asslan Ypi. Die Großmutter, um die sich in diesem Buch alles dreht, zeichnet sie als belesene, kosmopolitische und temperamentvolle Frau, die alles daran setzt, um ihre Würde im Angesicht von Rassismen und ideologischen Anfechtungen zu bewahren. Eine geradezu kafkaeske Wendung nimmt die Familiengeschichte, die auch die Themen Erinnerung und Identität ständig bespielt, am Ende. So gelingt Lea Ypi eine erschütternde, höchst informative Erzählung.
Judith Staudinger
Lea Ypi: Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme. Aus dem Engl. von Eva Bonné, 389 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2025 EUR 28,80