Eine andere Schöpfungsgeschichte

Erzählungen vom Ursprung der Menschheit gibt es ja viele – auch wenn uns hierorts die christliche am vertrautesten ist. Bei Chantal Maillard geht sie so: Einst stürzten geflügelte Geschöpfe vom Himmel herab auf die Erde, legten ihre Flügel ab und vermehrten sich mit jenen dort ansässigen Tieren, die ihnen noch am ähnlichsten waren … und so entstand der Mensch, ein hybrides Wesen zwischen Unsterblichkeit und Tierischem. Am Anfang war: der Hunger, und alles Leben gründet auf ihm, als Brennstoff und als Urgewalt. Maillard, Poetin, emeritierte Professorin für Ästhetik, Kunstgeschichte und orientalische Philosophie, Yogalehrerin und Indienreisende entwirft eine düstere Philosophie von der conditio humana, denn wenn „es etwas noch Perverseres gibt als den Mechanismus des Hungers, in dem wir gefangen sind, dann ist es diese Neigung, ihn schön zu finden.“ Das Gegenbild aus den Veden: „Am Anfang war der Klang … dann kamen die Resonanzen“. Und Mitgefühl ist in ihrer an östlichen Philosophien geschulten Denkweise solch eine Resonanz, sie entsteht aus einem Ort höherer Allgemeinheit, ohne Urteil, durch bloßen Gleichklang. Sie schreibt: „Eine Ethik des Mitgefühls wird das Leben nicht besser machen. Das System des Hungers wird bleiben, was es ist. Aber vielleicht wird es erträglicher. Verstehen und sich verstanden wissen ist kein Heilmittel, aber ein Balsam.“ Es ist ein nicht einfach zu lesender Text, was an Maillards poetisch-rhizomatischer Sprache, ihrer hybriden Denkweise mit den vielen philosophischen Querverweisen aus Ost und West, an der Wahl von Medea als Beispiel für die Schwierigkeit urteilsfreien Mitgefühls und möglicherweise auch an der Übersetzung aus dem Spanischen liegen mag – eine lohnende Lektüre für einschlägig Interessierte ist er allemal.
kr
Chantal Maillard: Mitgefühl mit Medea. Aus dem Span. von Richard Steurer-Boulard. 230 Seiten, Turia und Kant, Wien 2024 EUR 29,00