Biografien voll Orlandos

Eine Person sitzt vor laufender Kamera auf einem Baumstumpf in einem lichtdurchfluteten Wald. Sie wird geschminkt und zurechtgemacht, besonders an Puder wird nicht gespart. Die Person trägt eine weiße Halskrause, abgesehen davon aber Alltagskleidung. Der Kragen verleiht ihr etwas Theatralisches, sie wirkt dadurch aber auch wie außerhalb der Zeit. Kurz danach fängt die Person an zu sprechen. Sie stellt sich und ihre Rolle im Film vor: Sie wird Orlando verkörpern.

Wie können wir Geschichten erzählen, die vom Hinterfragen und Umwandeln des Geschlechts handeln? Wie können wir das Aufbrechen von Geschlechternormen darstellen? Genau diese Fragen bearbeitete Virginia Woolf bereits vor fast hundert Jahren in ihrem Roman Orlando. Eine Biographie. Paul B. Preciados 2023 erschienene Dokumentation Orlando. Meine politische Biographie. greift Woolſs Schreiben für seine eigene Erzählung nun auf. Die Auseinandersetzung mit Büchern in Filmen, vor allem die filmische Adaption von Romanen finden wir häufig in der Welt der Bewegtbilder. Paul B. Preciados Dokumentation Orlando. Meine politische Bio- graphie ist ein besonders gelungenes Beispiel davon, vielleicht auch, weil der Film auch über viele Teile hinweg wie ein gesprochener Text wirkt.

Warum er nicht seine Biografie aufschreibt, wird Preciado zu Beginn des Filmes gefragt. Seine Antwort ist kurz: „Weil Virginia Woolf meine Biografie schon in Orlando erzählt hat“. Virginia Woolf, eine der bedeutendsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts, ist in feministischen Kreisen besonders für ihren Essay A room of one’s own bekannt. Orlando erschien ein Jahr früher 1928 und kann als einer der ersten queeren Schlüsseltexte gesehen werden. Der Roman begleitet die Hauptfigur Orlando in ihrem Leben vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart der Autorin. Orlando, dem ewige Jugend und Schönheit versprochen wurden, lebt zunächst als junger Adeliger in England, bis er als Botschafter in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) arbeitet. Dort fällt er in einen Schlaf, aus dem Orlando als Frau erwacht. Heimlich verlässt Orlando nun die Stadt und kehrt nach England zurück. Wie schon vor ihrer Verwandlung versucht sie sich im Schreiben, was ihr nach einiger Zeit auch zu einem literarischen Durchbruch verhilft.

Das zentrale Thema des Werks sehen viele Rezensent:innen in der Umwandlung Orlandos vom Mann zur Frau und den dabei aufgeworfenen Fragen zu Geschlecht. „The change of sex, though it altered their future, did nothing whatever to alter their identity.“ schreibt Woolf kurz nach Orlandos Verwandlung. Erst durch das Kleiden in Frauenklamotten, durch die Geschlechterperformanz, muss sich Orlando mit ihrer neuen Identität auseinandersetzen. „At any rate, it was not until she felt the coil of skirts about her legs and the Captain offered, with the greatest politeness, to have an awning spread for her on deck, that she realized with a start the penalties and the privileges of her position.“

Was es bedeutet, als Frau statt als Mann zu leben, wird bei Woolf besonders unterhaltsam wie intelligent herausgestellt. Woolf beschreibt die sich verändernden Geschlechterrollen, die Einführung der heterosexuellen Ehe und das Leben Orlandos, welche:r sich nicht davon unterkriegen lässt. Sie erlaubt Orlando, als Mann und als Frau aufzutreten und nimmt dabei sowohl Orlandos Eigenheiten wie die normativen Geschlechterrollen auf den Arm. Orlando ist eine absolute Leseempfehlung. Der Text beschreibt überzeugend gut und humorvoll die moralischen Vorstellungen der verschiedenen Epochen Englands und parodiert die auftretenden Personen, die fast alle von Freund:innen Woolfs inspiriert sind. Das Buch wurde Vita Sackville-West gewidmet, einer Freundin und Liebhaberin Woolfs, die von Orlando verkörpert wird, und wird zuweilen auch als der „schönste Liebesbrief in der Geschichte der Literatur“ charakterisiert.

Dieses Motiv der Fluidität von Geschlecht wurde von Preciado in seiner Dokumentation aufgegriffen. In einem Woolf gewidmeten filmischen Brief beschreibt er, wie die Welt und besonders seine eigene voller Orlandos ist: Orlando hat sowohl Roman als auch die Jahrhunderte überlebt und ist in vielen Personen Wirklichkeit geworden. Eine Vielzahl an Menschen, unter ihnen auch Preciado selbst, schlüpfen dabei in die Rolle Orlandos und erzählen etappenweise die Geschichte von Orlando verwoben mit ihrer eigenen. Sie erzählen von ihren Wünschen, ihren Erfahrungen und ihrer Transformation. Alle tragen eine weiße Halskrause, ihr Erkennungsmerkmal als Orlandos: „In diesem Film werde ich Orlando von Virginia Woolf sein.“ Die gezeigten Personen sind daher Erzählende, Schauspielende und Interviewte. Das Ergebnis ist ein vielfältiger und intimer Einblick in das Leben von trans- und nicht-binären Menschen, die alle einen Teil von Orlando verkörpern.

Zu wechselnden Hintergründen tragen die Personen einzelne Passagen aus Woolfs Roman vor, teilweise mit sich überlagernden Stimmen, sodass ein dichterischer Sprechchor entsteht. Die Biografie, die dargestellt wird, ist eine kollektive, und in ihr wird nach wie vor für Anerkennung und Sichtbarkeit gekämpft. Im Zusehen kann trans-Sein als poetische Reise verfolgt werden, in der eine neue Sprache erfunden wird, in der neue Bezeichnungen für sich selbst und die Welt gefunden werden. Preciado wie Woolf beschreiben die Welt als eine stetigem Wandel unterworfene, durch den sie erst eine Form erhält. Im Film wird zwischen der Ebene vor und hinter der Kamera häufig gewechselt; wie der Film entstanden ist, wird in der Dokumentation immer wieder sichtbar gemacht. Deshalb lässt sich dieser Film auch nicht in ein Genre einordnen, sondern ist ein Spielfilm wie eine Dokumentation und stellt Autobiografisches und Fiktion gleichermaßen dar.

Paul B. Preciado ist ein spanischer Philosoph und trans-Aktivist. Einer seiner wichtigsten Texte sind das Kontrasexuelle Manifest, in dem er versucht, Sexualität anhand von Anus und Dildo (statt Penis und Vagina) neu zu denken. In Testo Junkie beschreibt Preciado seinen Selbstversuch mit Testosteron und bettet dies in unser heutiges Zeitalter ein, welches er als ‚pharmapornographisch‘ beschreibt. Mit Orlando konnte Preciado sein Regie- und Drehbuchdebüt feiern und erhielt dafür mehrere Auszeichnungen.

Roman und Film werfen Fragen rund um Geschlechter-Identität(en) auf. Die Transition oder Verwandlung ist für alle Hauptfiguren wichtig, denn diese werden sehr unterschiedlich beschrieben. Fällt Orlando bei Woolf einfach nur in einen mehrtägigen Schlaf, von dem aus er mit einem anderen Geschlecht erwacht, zeigt Preciado die Herausforderungen und die Langwierigkeit einer Geschlechtertransition auf. Auch Woolf schreibt, erstaunlich aktuell, von einem schleppenden Gerichtsstreit, den Orlando bei ihrer Rückkehr nach England ausfechten muss, um ihr Geschlecht und ihr Eigentum anerkennen zu lassen. Preciado bricht an einigen Stellen mit der klassischen Darstellung von Geschlechtsumwandlungen und stellt stattdessen auch die Lust dar, die diese mit sich bringt. Eine Szene, in der gemeinsam Hormone in einem ärztlichen Wartezimmer eingenommen werden, wirft beispielsweise die Frage der unterschiedliche Bewertung und Verfügbarkeit von Hormonen auf.

Die beiden Werke erlauben uns, über eine Welt jenseits der binären Geschlechtermatrix nachzudenken und uns vorzustellen, wie eine Welt sein könnte, in der Geschlecht wahrhaft fluide und wechselbar ist. Dass dies noch weit von der Realität entfernt ist, und wie insbesondere Trans-Personen stetig dafür kämpfen, zeigen Buch und Film in besonders schöner Weise auf.


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