Das Elend des Proletariats
Wir wissen es: „Arbeitnehmer“ sind in Wirklichkeit die, die Arbeit geben und „Arbeitgeber“ die, die Arbeit nehmen. Die Umkehrung bzw. Verschleierung der Tatsachen bewerkstelligt das wording, die Narrationen, die Definitionsmacht. Ebenso ist die Bezeichnung Ober-, Mittel- und Unterschicht ein Verwischen der Grenzen der Klassen, bzw. bewirkt ein Verschwinden des Klassenbegriffs. Das kapitalistische System braucht die Arbeitslosen als Ressource wie als Druckmittel/Warnung, als Versicherung, dass die Arbeitenden „normal“ seien und die ohne Arbeit nicht. Anna Mayr, Redakteurin bei der Zeit und Kind von Hartz IV-Empfängern, schreibt aus der Sicht einer „Aufsteigerin“, jenen Mythos dabei entlarvend, der besagt, dass es für die Fleißigen und Willigen Gerechtigkeit in diesem System gäbe. Mayrs lesenswertes Buch schildert ihre persönlichen Erfahrungen, analysiert das System und seine Narrative, macht historische Exkursionen als Widerstand gegen Verachtung, Stigmatisierung und vor allem gegen das Aussetzen in die Verarmung. Das Infragestellen der heiligen Kuh „Leistung“ sei der Anfang. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist für sie übrigens keine Lösung, weil es die Menschen weiterhin in Arbeitende und Nicht-Arbeitende teilen würde. Sie plädiert für Wut als politisches Instrument: Wut auf die ausbeuterischen, menschenunwürdigen Verhältnisse, – denn: „Wir haben nichts zu verlieren, außer unsere Angst.“ (Ton, Steine, Scherben)
Karin Reitter
Anna Mayr: Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht. 208 Seiten, Hanser, Berlin 2020 EUR 20,90