Den Gang der Geschichte ändern

Auch im dritten und vierten Teil der Jahreszeiten-Tetralogie begegnen uns Menschen, die auf der Suche sind. Im dritten Teil taucht der planlose frustrierte suizidgefährdete Regisseur Richard Lease auf, der den Tod seiner alten besten Freundin, einer für ihn genialen Drehbuchautorin, nicht verkraftet. Dann gibt es da noch eine scheinbar reaktionäre Securitykraft in einem Flüchtlingszentrum, die einen Veränderungsdruck verspürt, der von einer zwölfjährigen Lichtgestalt inspiriert wird, mit der sie sich auf eine Reise begibt. Das zwölfjährige Mädchen hat die Power, die Hierarchieebenen im Flüchtligszentrum durch bloßes in Frage stellen ihrer Tätigkeiten so maßlos zu verunsichern, dass es fast einem Wunder gleicht. Es geht Smith weniger um den großen Wurf in der Geschichte als um den Alltag in der Pandemie, der aufgrund der Atomisierung schwer zu ertragen ist. Klimawandel, Brexit und soziale Missstände in Flüchtlingslagern werden auch im vierten Teil wieder thematisch eingebunden. Da sind Sacher und ihr autistischer Bruder Robert, die mit ihrer leicht verrückten Mutter durch Zufall Charlotte und Arthur kennenlernen, die Sacher Erste Hilfe leisten. Gemeinsam verbringen die fünf Zeit miteinander und beschließen eine kleine Reise, um Daniel Gluck zu treffen. Dieser ist, nachdem er bereits im ersten Teil „Herbst“ eine wichtige Rolle spielte, mittlerweile 104 Jahre alt und erinnert sich an seine Zeit in einem englischen Internierungslager während des Zweiten Weltkrieges. Eine Absurdität seiner Geschichte ist, dass er, der jüdischer Herkunft ist und nationalsozialistischer Gegner ist, in dieser Phase von der englischen Gesellschaft wie ein Nationalfeind behandelt wird. Ali Smith schafft es, aus vielen Puzzleteilen einen Rahmen zu konstruieren; wenn heute wieder Menschen, die auf der Flucht sind, in Lagern bewacht werden, dann handelt es sich um eine historische Wiederholung, auch ihnen wird ihre Freiheit gestohlen. Sacher ist diejenige, die bereit ist, gegen die vorherrschende gesellschaftliche Gefühlskälte etwas zu unternehmen. Sie schreibt Briefe an Flüchtlinge. In einem Flüchtlingszentrum werden über Nacht die Menschen frei gelassen, nachdem durch die Pandemie eine medizinische Notlage eingetreten ist. Und einige der Flüchtlinge werden von der 70jährigen Iris in deren Haus aufgenommen, die durch diesen Akt einen Teil ihrer früheren Politikerfahrungen als Aktivistin zurückgewinnt. Berührend sind die von Smith geführten Dialoge, wenn sich Menschen, die sich gerade erst kennengelernt haben, sich empathisch aufeinander einlassen können. Darin liegt eine große Stärke der Autorin, dass sie es schafft, schwierige und komplexbeladene Menschen, die auf den ersten Blick über keinerlei Gemeinsamkeiten verfügen, so zu entwickeln, dass sie bindungsfähig werden. Dieses bringt ob der philosophischen Tragweite eine enorme Zuversicht mit sich, dass gesellschaftliche Veränderung möglich ist. Empfehlenswert!

ML

Ali Smith: Frühling Aus dem Engl. von Silvia Morawetz. 318 Seiten, Luchterhand, München 2021 EUR  22,70

Ali Smith: Sommer. Aus dem Engl. von Silvia Morawetz. 380 Seiten, Luchterhand, München 2021 EUR  22,70