Die Eigenschaften des Schnees
Die von Alpträumen geplagte, alleinlebende Künstlerin Gyeongha wird von ihrer Freundin, der Filmemacherin und Tischlerin Inseon auf die entfernte Insel Jeju zu deren Elternhaus geschickt, nachdem Inseon aufgrund eines Arbeitsunfalls hospitalisiert ist. Inseon sorgt sich um ihren Papagei, der unbedingt versorgt werden muss. Aufgrund von Schneeverwehungen und Kälte kann Gyeongha nach dem Flug nur schwer Inseons Zuhause erreichen. Der Vogel ist jedoch bereits verdurstet, so dass Gyeongha ihn beerdigt. In der weiteren Folge konfrontiert sich Gyeongha mit Inseons Familiengeschichte, die von den tragischen politischen Ereignissen Ende 1948 rund um die südkoreanische Republiksgründung geprägt ist. Staatliche Repressionsorgane haben auf der Insel Menschen, die als kommunistisch gesinnt verdächtigt wurden, wahllos ermordet und diese entweder ins Meer geworfen oder in Bergstollen eingraben lassen. Inseons bereits verstorbene Eltern verloren bei diesem Massaker familiäre Angehörige, was ihr weiteres Überleben empfindlich prägte. Die Nobelpreisträgerin Han Kang beweist, wie wichtig es ist, sich der Vergangenheit zu stellen, um die Gegenwart konstruktiv zu gestalten. Dadurch, dass der Roman mit surrealen wie auch mit träumerischen Sequenzen spielt, ist für die Leserin mitunter nicht leicht zu entschlüsseln, was tatsächlich der Ich-Erzählerin Gyeongha in Inseon Elternhaus widerfährt. Das mag irritierend sein, aber hindert die Leserin nicht, anhand der vorgestellten Puzzleteile historische Ereignisse in ihrer Wichtigkeit zu ordnen. Außergewöhnlich!
ML
Han Kang: Unglücklicher Abschied. Aus dem Korean. von Ki-Hang Lee. 315 Seiten, Aufbau Verlag, Berlin 2024 EUR 24,70