Erschütternde Selbstporträts

Wenn man nichtsahnend den eleganten Bildband aufschlägt, dann ist man geschockt. Zu sehen sind in vielfältigen Variationen die Abbildungen eines bis auf die Knochen abgemagerten Frauenkörpers, mit einem Gesicht, das durch seine ausgemergelten Züge alt und grotesk aussieht. Es sind dies die Selbstporträts der seit ihrem zehnten Lebensjahr an Magersucht erkrankten norwegischen Künstlerin und Fotografin Lene Marie Fossen. Der wunderschön gestaltete Band versammelt unter dem Titel „Gatekeeper“ Fotos, die Fossen von sich in einer verfallenen Anstalt für Leprakranke aufgenommen hat. Die präzis komponierten, manchmal verfremdeten, mit Licht und Schatten spielenden, bisweilen in dunklem Blau und Grün gehaltenen, verschieden-formatigen, teilweise in bewegten Abfolgen zusammengestellten und mehrmals gar die Seitenfolierung als Schutz aufsuchenden Fotos, die die oft halb in Tücher gehüllte Künstlerin in Posen, Positionen, Bewegungen zeigen, umkreisen die Themen des Lichts und der Finsternis, des Aus- und Übergangs, des Leidens und der Verzweiflung und folgen einer auf das langsame Verschwinden hinzielenden Chronologie, gleichsam gesteuert durch die beigefügten Gedichte der Künstlerin. Der Radikalität, die in Fossens rückhaltloser Darstellung ihrer Selbstvernichtung liegt, nähern sich kurze persönliche kunstphilosophische Texte sowie ein Beitrag zu Anorexie und arbeiten das Spannungsverhältnis von tödlicher Selbstbeschränkung, paradoxer Lebensbejahung und künstlerischer Freiheit heraus.
SaZ
Lene Marie Fossen. The Gatekeeper. Hg. von Ilgın Deniz Akseloğlu und Ellen K Willas. 188 Seiten, Kehrer Verlag, Heidelberg 2020, EUR 46,30