Erzählte und un-erzählte Existenzen

Um ihre Erfahrungen als Schriftstellerin und begeisterte Leserin zu reflektieren, schwebte Alice Zeniter (geboren 1986, französische Mutter, algerischer Vater) ein Buch vor, das einem Spaziergang gleicht. Kein Essay. Der Weg führt durch eine Art Familienaufstellung des konventionellen Erzählens: Hier der Autor, ins Zentrum und als Norm gesetzt; dort die Autorin unter dem Label ‚Frauenliteratur‘; dazu gut platziert die Prototypen des männlich-heroischen Plots mit ornamentaler Frauenfigur und ebenso das Verlagswesen, die Literaturkritik und der literarische Kanon als Siegelbewahrer. Die so erzählten Geschichten würden sich weniger an unserem Leben orientieren als unsere Leben an diesen Geschichten, resümiert Helene Hegemann in ihrem Vorwort. Zeniter analysiert die strukturellen und methodischen Grenzen dieses Erzählens scharfsinnig. Sie sei mangels ausreichender weiblicher Identifikationsfiguren fast ihr ganzes Leserinnenleben „ein Mann gewesen“. Weibliche und andere ‚randständige‘ Existenzen seien lange un-erzählt (non-storied) geblieben und hätten noch immer zu wenig Repräsentanz und Redezeit. Dem konventionellen Erzählen fehle „eine ganze Hälfte der Welt“. Das ist literarisch, aber auch politisch bedeutsam. Alice Zeniter versteht Erzählen als ein Verfahren, um mit der un-erzählten Welt, den unbekannten Seinsformen, in Verbindung zu treten und erörtert dies auch anhand ihres eigenen Schreibens. Sie plädiert insbesondere für ein offenes, pluralistisches, multiperspektivisches und polyphones Erzählen. Ein Anspruch, dem eigentlich auch das vorliegende Buch entspricht – ein anregender und unterhaltsamer Spaziergang.
Silvia Zendron
Alice Zeniter: Eine ganze Hälfte der Welt. Die vernachlässigten Frauen der Literatur. Mit einem Vorwort von Helene Hegemann. Aus dem Franz. von Yvonne Eglinger. 256 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2025 EUR 22,70