Es ist Zeit, in den Schattierungen zu leben
Jessica Linds zweiter Roman bewegt sich um Pias unaufgearbeitete Familiengeschichte. Pia ist Mutter eines siebenjährigen Sohnes und wohnt unauffällig mit ihrem Ehemann Jakob in geordneten Verhältnissen, bis es zu einem sexualisierten Vorfall in der Schule ihres Sohnes Luka kommt, in dem ihr Sohn als Täter involviert ist. Eine Vorsprache in der Schule ohne Klärung, Misstrauen anderer Eltern lassen die Erziehungsberechtigten spüren, dass etwas mit ihrem Kind nicht stimmt. Während Jakob weniger irritiert ist, da seine eigene zurückliegende Familiengeschichte eher ungetrübt ist, ist Pia hoch sensibilisiert, weil es in ihrer Familie unaufgelöste Rätsel über ihre mit vier Jahren tödlich verunglückte Schwester Linda gibt und ihre aus der Familie ausgestoßene Schwester Romi. Ihre eigene Skepsis gegenüber ihrem Sohn bringt sie dazu, tief in ihre Kindheitsgeschichte einzutauchen, um ihr vormaliges Verhältnis zu Romi zu klären. Es ist ein aufwühlender Roman, der in leisen Tönen beweist, wie schwierig konfliktreiche Themen zu klären sind, wenn es an Ehrlichkeit mangelt. Stattdessen wachen enge familiäre Regelsysteme an der Oberfläche, um zu verhindern, dass verdeckte oder zugeschüttete tragische Ereignisse in ihrer Tragweite klarer werden. Empfehlenswert!
ML
Jessica Lind: Kleine Monster. 251 Seiten, Hanser Berlin, Berlin 2024 EUR 24,80