Gefiederte Identität

Von klein auf führt Amélie Nothomb ein privilegiertes Leben. Als Tochter eines belgischen Diplomaten ist die ganze Welt ihr Zuhause. Geboren in Japan, wächst sie in China, Bhutan, den USA und vielen anderen Ländern rund um den Globus auf. Als Kind fasziniert sie das tragische Märchen der Kranichfrau, die zum Preis der Selbstzerstörung wunderschöne Stoffe aus ihren eigenen Federn webt. Diese Geschichte löst bei Amélie eine lebenslange Obsession für Vögel aus. Jeden Morgen berauscht sie sich am Gesang ihrer gefiederten Freunde. Das Vogelkundebuch ist ihre Bibel. Sie identifiziert sich mit den Luftbewohnern, schlüpft selbst wie ein Vogel aus dem Ei und möchte fliegen lernen. Doch statt abzuheben, stürzt sie ab. Mit 12 Jahren wird Amélie vergewaltigt, sie hört auf zu essen und stirbt fast an ihrer Anorexie. Erst als sie beginnt zu schreiben, kann sie sich wieder wie ein Phönix aus der Asche erheben. Den Vögeln bleibt sie treu. Als titelgebender Psychopompos geleitet sie – in Vogelgestalt – den verstorbenen Vater ins Totenreich. Die Unterhaltung der beiden ist amüsant und tröstlich zugleich. In Psychopompos beleuchtet Amélie Nothomb die eigene Lebensgeschichte aus ungewöhnlicher Perspektive. Sie gewährt aber auch sehr persönliche und tiefe Einblicke in die Zauberküche ihres schriftstellerischen Schaffens.
Ute Fuith
Amélie Nothomb: Psychopompos. Aus dem Franz. von Brigitte Große. 128 Seiten, Diogenes Verlag, Zürich 2025 EUR 23,70