Grazer Bürgertum seziert

Was für eine Biografie! Die Autorin Gwendolyn Leick wächst in den 1960ern u.a. in Graz auf, studiert in England Altorientalistik, gibt mehrere enzyklopädische Wörterbücher heraus und wird mit 52 Jahren dreifache Weltmeisterin im Gewichtsheben. „Franckstraße 31“ ist ihre erste literarische Publikation in deutscher Sprache und wirft auf etwas mehr als hundert Seiten einen analytischen Blick auf die Grazer bürgerliche Gesellschaft der 1960er Jahre. Ähnlich einer ethnografischen Arbeit seziert die Autorin das Mehrparteienhaus, in dem sie mit ihrer verwitweten Mutter und ihrer Schwester aufgewachsen ist und beschreibt detailreich die alten Mauern, Kellerlöcher und Möbelstücke, an denen ihre persönlichen Erinnerungen, aber auch die Spuren einer vergangenen Zeit hängen. So entsteht eine nüchterne Betrachtung der bourgeoisen Umgebung, in der die Erzählerin ihr Interesse für alte Sprachen und Geschichte entwickelt, kindlichen Fantasien nachhängt, erste Liebschaften eingeht und gegen die Mutter, eine alte Nazi, rebelliert. Besonders das Kapitel „Mädchenzimmer“ zeugt u.a. anhand einer Art Lesebiografie von der Entwicklung eines Kindes zur eigenständigen Denkerin – und erinnert an die in Virginia Woolfs A Room for Ones Own beschriebene Notwendigkeit des eigenen Zimmers für das geistige Fortkommen. Ein klar und präzise dargestelltes Porträt eines bürgerlichen Grazer Hauses samt seiner Bewohner:innen.
 ReSt
Gwendolyn Leick: Franckstraße 31. Raumprosa. 126 Seiten, Edition Korrespondenzen, Wien 2021 EUR 18,00