Haben Sie sich schon einmal gefragt, was wäre, wenn das Patriarchat in Therapie ginge?

Katharina L I N N E P E, ausgebildete feministische Coachin, hat das jedenfalls als Gedankenexperiment in „ihrem frühkindlich-anarchistischen Oberstübchen“ durchgespielt. Sie hat sich gefragt, was wäre, wenn nicht WIR, sondern das Patriarchat als Verursacher unserer tagtäglichen Probleme in Therapie ginge?
„Ein System, dessen Spuren wir versuchen, an unseren geschundenen Seelen wieder abzuarbeiten, auf Kasse oder privat. Der Ursprung von Herrschaftsverhältnissen, die uns in kolossale globale Krisen stürzen, aber glauben machen, dass wir Einzelne einfach nicht resilient genug sind, um den ganzen Wahnsinn durchzustehen.“ Sie wollte mal den Spieß umdrehen und unsere Gesellschaftsordnung fragen: „Momentchen mal, wer von uns beiden hat eigentlich den Knacks?“ Gedacht – (und in einem dreiminütigen, satirischen Instagram-Video aus dem dann eine Serie wurde) getan! Nun liegen ihre Sitzungen mit unserem kranken Gesellschaftssystem (so der Untertitel) in Buchform vor.
Nun, was wäre denn die Intention, die das Patriarchat zur Therapie führt in solch einem Gedankenexperiment? Es ist ein in den letzten Jahren aufgetretenes „Imageproblem“ „so ein kleines“, wie es in der ersten Sitzung kundtut, denn da wären ein paar Menschen, die eine „lächerliche Kampagne“ gegen es führten und auf einmal Gleichberechtigung, Diversität, seelische Gesundheit beanspruchen würden. Es geht ihm also um ‚Selbstoptimierung‘, seinen Status und seinen Einfluss zu verbessern, um Machterhalt, nicht um grundlegende Veränderungen.
LINNEPE stellt demnach dem Patriarchat (dem „imperialist white supremacy capitalist patriarchy“, wie bell HOOKS es immer nannte) – nicht überraschend – aber anhand einer Checkliste nach internationalen Standards akribisch nachgewiesen – nach der ersten Sitzung die Diagnose: ausgeprägter Narzissmus, Psychopathie und Machiavellismus – also der sogenannten dunklen Triade, wie das in Fachkreisen heißt. Die Schnittmenge der drei: „ein hohes Maß an Selbstbezogenheit bis hin zur Selbstsucht, geringe Ausschläge auf der Empathie-Skala, was sich in Rücksichtslosigkeit bis hin zu Skrupellosigkeit zeigt“ und ein relativ niedrig anzusiedelndes Moralbewusstsein, sodass diese antisoziale Persönlichkeitsstörung als schwer bis gar nicht therapierbar gilt – denn ein wichtiges Therapieziel wäre ‚Empathie‘.
An eine Veränderung, ja auch nur Selbstreflexion ist daher nicht zu denken. Was also tun? LINNEPES Fazit – nachdem sie das Patriarchat nach etlichen Sitzungen als untherapierbar entlassen hat und weitere Sitzungen verweigert: Die Lektionen über den Leistungs- und Performance-Druck und das ewige Nicht-genug-Sein, die das Patriarchat auf uns überträgt. Das Erleben der psychopathischen Kälte, des Ausbeutens anderer, des Raubbaus an unserer Gesundheit, unserer Umwelt, unserem Seelen- und Weltfrieden. Das Enttarnen der machiavellistischen Taktik, uns selbst und andere mit hanebüchenen Geschichten über unsere Natur zu knechten. Das alles waren stille Selbstgespräche.
Wenn das Patriarchat in Therapie geht (ja, wenn!), dann führt es uns zur Selbsttherapie. Wie zeigen wir also dem Patriarchat in uns, wo’s rausgeht? fragen wir uns mit der Autorin. Anders als so manche beste Freund*innen des Patriarchats aus der Coaching/Therapie-Szene, denen es darum geht, Menschen zu ‚optimieren‘, also innerhalb des Systems funktionabel zu machen, betont LINNEPE, dass sie als feministische Coachin zur Selbsthilfe-Helferin geworden sei, „um Menschen für die Glaubenssätze, Abhängigkeiten und strukturellen Hürden des Patriarchats nicht verantwortlich, sondern sensibel zu machen“ und den Brainwash durch gängige Coaching-Buzzwords (wie Komfortzone, Mindset, Selbstoptimierung) als patriarchalen
Leistungs- und Performance-Druck zu
erkennen und zu ‚entzaubern‘.
Schließlich empfiehlt sie als Hilfsmittel folgende Medikamente:
Dekonstruktion
Dekonstruktion der Erzählungen des Patriarchats, die sein System als ‚naturgegeben‘ legitimieren sollen („storytelling is the key“), der Vorschreibung von restriktiven Geschlechterrollen, dem male gaze (männlichen Blick), mit dem Frauen bzw. als Frauen gelesene Personen sich auch selbst betrachten und beurteilen…
Macht/Selbstermächtigung
„damit wir neue gesellschaftliche Narrative schreiben, die uns guttun“ und zwar als Gegenteil von Gewalt, so wie Hannah ARENDT sie versteht, nämlich als ein Miteinander: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält.“
Fantasie
Um sich auszumalen, wie es sein könnte, wenn das Patriarchat abgehauen wäre, wenn es seine Familie und Kumpels namens Androzentrismus, Sexismus, Rassismus, Klassismus, Kolonialismus, Kapitalismus, Neoliberalismus,… mitgenommen hätte, also eine „Utopie von einer Welt jenseits der Über- und Unterordnung von Menschen, Genderkategorien, Verfügungsgewalt und Ausbeutung zu entwerfen“, „wie es sein kann, wenn Empathie im Sinne einer menschlichen Selbst- und Nächstenliebe unsere gesellschaftliche Grundlage ist.“
Wir könnten auch das „kraftvolle Gedankenexperiment“ wagen, „wenn sich Frauen* plötzlich gemeinsam der Verfügungsgewalt des Patriarchats über sie entziehen und geeint im stillen Protest auf die Straßen dieser Welt legen“, also streiken! So wie es vor 50 Jahren in Island passierte, als am 24. Oktober 1975 über 90 % der Frauen alle ihre (bezahlten und unbezahlten) Tätigkeiten für einen Tag niederlegten und damit Island in der Folge „zum besten Ort der Welt, eine Frau zu sein“ machten. Damit es aber überhaupt so weit kommen konnte, erzählen damalige Aktivistinnen in dem Doku-Film Ein Tag ohne Frauen, mussten sie die Aktion in „Ruhe-Tag“ (1 Tag freinehmen) umbenennen, sodass bürgerliche Frauenorganisationen, die an dem Wort „Streik“ Anstoß nahmen, mitmachten.
Mit Reformen allein ist es jedoch nicht getan. Zwar kann weibliche Solidarität die Welt verändern, wie Franziska SCHUTZBACH in ihrem letzten Buch Revolution der Verbundenheit ausführt, denn indem das machiavellistische Prinzip des „divide et impera“ (teile und herrsche), nicht nur die Spaltung von Männern und Frauen betrifft, sondern die „Spaltung und Feindschaft unter Frauen eine tief verankerte Grundstruktur“ im Patriarchat ist, ist ein Auflehnen gegen diese Spaltung und Zersplitterung deshalb schon eine Revolution, aber bisherige Errungenschaften können ebenso wieder entzogen werden, wie wir heute anhand des Rechts auf Abtreibung sehen müssen, und Veränderungen, was die Einstellung, Ausübung bzw. Prävention von Gewalt gegen Frauen betrifft (Stichwort „Femizid“ als traurige Spitze des Eisbergs), finden nur schleppend bis gar nicht statt .
Der Gleichstellungsfeminismus im Neoliberalismus, so SCHUTZBACHs Überlegungen, hat die radikalen Ideen der 1970er Jahre, die Entwicklung einer alternativen, herrschaftsfreien Gesellschaft zugunsten einer Integration von Frauen (und anderen minorisierten Gruppen) in die bestehenden Verhältnisse/in den Arbeitsmarkt verdrängt. Die Rede von den „gleichen Chancen“, dem Zugang zu und der Teilhabe an der Macht sei für Männer zwar eher nachvollzieh- und akzeptierbar, beruht aber weiterhin auf einem System der Hierarchie, Ungleichheit, Ausbeutung und Gewalt (und Zufall sowieso).
Das Plädoyer einer therapeutischen Utopie lautet daher: patriarchal-kapitalistisch geprägte ‚Werte‘, ihre Deutungshoheit und ‚ewige‘ Gültigkeit in Frage zu stellen und Vorstellungen von Freiheit, Emanzipation, Gesellschaft und Ökonomie auf Basis von Kooperation und Solidarität im Dialog zu entwickeln und umzusetzen.

Katharina Linnepe: Wenn das Patriarchat in Therapie geht. Sitzungen mit unserem kranken Gesellschaftssystem. 256 Seiten, Beltz, Weinheim 2025 EUR 20,95