Halluzinieren im Eis

Die menschengemachte Klimakatas­trophe ist nicht mehr aufzuhalten, arktische Kälte breitet sich aus. Immer weiterwachsende Eismassen überziehen die Erde und drohen alles Leben unter sich zu begraben. Die übrig gebliebenen Mächte rüsten gegeneinander auf, Chaos und Gewalt regieren. In dieser apokalyptischen Atmosphäre jagt ein namenloser Protagonist durch namenlose Länder einer verflossenen Liebe hinterher, einem zerbrechlichen Mädchen, das er immer wieder zu retten versucht, vor der Kälte, vor anderen Männern, ob sie will oder nicht. In seiner süchtigen Suche verliert er sich fortlaufend in Gewaltfantasien, die wie Sackgassen in einem Labyrinth die Erzählung durchziehen, ihn eher zum Stalker als zum Erretter machen und auch dendie Leserin an die Grenzen des Aushaltbaren bringen. EIS ist das letzte Buch Anna Kavans und ihr größter literarische Erfolg, kurz vor ihrem Tod 1967 erschienen. Im halluzinogenen Sog des Textes glaubt man, Kavans jahrzehntelange Heroinabhängigkeit und ihren Kampf mit ihrer Depression zu spüren. Sie allein auf das zu reduzieren, wäre allerdings ein Fehler; zu aktuell sind die Themen Klimawandel und sexuelle Gewalt. Alles andere als ein klassischer Sci-Fi Roman, ist dieser Fiebertraum eines Textes eine verstörende, aber einzigartige Erfahrung.
 Mima Schwan
Anna Kavan: Eis. Aus dem amerik. Engl. von Silvia Morawetz und Werner Schmitz. Gebunden, 184 Seiten, Diaphanes, Zürich, 2020, EUR 18,00