Jüdische und feministische Perspektiven auf Literatur

Die Lektüre von Ruth Klügers ­Aufsätzen zur Literatur ist ein Genuss für alle Leser:innen: ob mit literaturwissenschaftlicher Vorbildung oder ohne; ob mit den besprochenen Werken, die teilweise im Zentrum, teilweise an den Rändern eines germanistischen Kanons angesiedelt sind, vertraut oder nicht. Die Aufsätze, größtenteils in einem akademischen Rahmen veröffentlicht, sind zwischen 1968 und Mitte der 1990er Jahre entstanden. Ihre Sprache, frei von fachspezifisch exklusivem Gestus, ist sehr klar und präzise. Sie eröffnen auch heute noch neue Blickwinkel sowohl auf einzelne Texte als auch auf literaturwissenschaftliche Herangehensweisen. So zeigt Ruth Klüger im ersten Aufsatz des Bandes, was es bedeutet, von feministischen und jüdischen Perspektiven auf Literatur zu sprechen und wie diese den so selbstverständlichen männlichen Universalitätsanspruch unterwandern zu können. Das „Außenseitertum der deutschen Dichterinnen“ beleuchtet sie in Anbetracht der Umstände, die dazu nötig waren, „deutschsprachigen Frauen zu einer selbstständigen Denkweise und konzentrierten Produktivität zu verhelfen“. Dem „Wahrheitsbegriff in der Autobiographie“ hilft sie auf die Sprünge, indem sie sich in ihrer Doppelrolle als Literaturwissenschafterin und als Autorin von „weiter leben“. Eine Jugend, ihrer Autobiografie über ihre Kindheit und Jugend während der NS-Zeit und im KZ, positioniert und darauf verweist, dass eine Autobiografie „vom Anspruch, nicht vom Inhalt her, definiert werden muss“. Bei diesem Band handelt es sich um eine grandiose, wirklich ausgesprochen lesenswerte Aufsatzsammlung.
Eva Schörkhuber
Ruth Klüger: „Wer rechnet schon mit Lesern?“ Aufsätze zur Literatur. Hg. von Gesa Dane, 256 Seiten, Wallstein, Göttingen 2021 EUR 24,70