Kein Kind ihrer Zeit

Die erste Auflage mit dem Titel The White Album, 1979 veröffentlicht, ist eine Auswahl an Artikeln, Essays und Reportagen, die in etwa zwischen 1965 und 1971 als Auftragsarbeiten für eine Vielzahl von Zeitschriften wie Life, Esquire oder der The Los Angeles Times Book Review entstanden. Joan Didion, 2021 verstorben, war im amerikanischen Sprachraum nicht unbekannt. Nach ihrem Englischstudium stieg die hochgebildete Mit-zwanzigerin zur Redakteurin bei der Zeitschrift Vogue auf, lebte an der Ostküste. 1964, mit Anfang Dreißig, kehrte Didion, die in Sacramento in Kalifornien geboren wurde, an die Westküste zurück. Ihre Analysen der gesellschaftlichen Auf- und Ausbrüche der 1960er Jahre, der Studentenunruhen, der Frauenbewegung, der Kämpfe gegen rassistische Ungleichheiten spannen einen Bogen zu den Erfahrungen des privaten Menschen. Didion beschreibt den Zweifel an sinnvollen Zusammenhängen, an der Fähigkeit, ja Möglichkeit korrekter Schlussfolgerungen, die das Gerüst ihrer Geschichten bilden, während sie für Recherchen Orte bereist und Menschen interviewt. Sie schildert Begegnungen mit Protagonisten der Black Panther Party, vermittelt die düstere Stimmung einer Aufnahmesession der Band The Doors, erzählt, dass Roman Polanski einst Rotwein über ihr weißes Seidenkleid schüttete und sie ausgerechnet Linda Kasabian, Mitglied der Manson-Sekte, ein Kleid für die bevorstehende Gerichtsverhandlung kaufen sollte. In einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit finden wir uns in einen Ausschnitt einer mondänen, dekadenten Welt hineinversetzt, in deren Zentrum oder doch am Rande die Autorin sich scheinbar völlig ruhig als Beobachterin wiederfand.

Laura Derma

Joan Didion: Das weiße Album. 352 Seiten. Ullstein, Berlin 2022 EUR 24,50