Keine Chance

Der Debütroman von Theresa Pleitner verhandelt moralische Fragen, die in einem Aufnahmeland mit geflüchteten Menschen an der Tagesordnung sind. Die Ich-Erzählerin kehrt schuldbewusst als Beobachterin an den unwirtlichen Ort einer bis vor kurzem noch existierenden Flüchtlingsunterkunft zurück. Dort war sie eine Zeit lang als Psychologin tätig. Ihre Aufgabe bestand darin, geflüchtete Menschen einzuschätzen und zu dokumentieren, ob diese psychisch stabil oder erkrankt und möglicherweise sogar selbstmordgefährdet sind. Wesentlich an ihrem beruflichen Auftrag ist es, Flüchtlinge, denen staatlich kein rechtlicher Anspruch auf ihren Aufenthalt zugesprochen wird, von einem Suizid abzuhalten. Sie soll abwägen, ob jemand selbstmordgefährdet ist. Sobald sie diese Prognose von jemanden im Lager erstellt, ist diese Person vom psychosozialen Dienst abzuholen und stationär von diesem zu behandeln. Rückblickend reflektiert sie, dass sie, wenn sie ihren wahren Gefühlen freien Lauf gelassen hätte, jedenfalls ihre Arbeit noch am ersten Tag hätte kündigen müssen. Das Lager zeichnete sich durch eine von Securitys geprägte repressive Kontrolle aus und die Schlafplätze waren von einer Wanzenplage kontaminiert. Ines, die psychologische Kollegin der namenlosen Ich-Erzählerin, hielt sich strikt an die Vorgaben der Leitung. Ein mögliches Unwohlsein mit ihrer Aufgabe kompensierte diese mit isolierten Kohlenhydraten. Letztlich lernt die Ich-Erzählerin, nachdem sie ohne Rollendistanz die Arbeit ausgeübt hat, dass sie aufgrund ihrer Empathie für die Flüchtlinge für die staatliche Aufgabe ungeeignet ist. Empfehlenswert!
ML
Theresa Pleitner: Über den Fluss. 204 Seiten, S. Fischer, Berlin 2023 EUR 22,70