Kollision von Traumzeit und Wissenschaft

Ausgangspunkt dieses schmalen autobiografischen Textes ist die dramatische Konfrontation einer jungen französischen Anthropologin, Nastassja Martin selbst, mit einem Bären im russischen Kamtschatka. Martin, die dabei schwer am Kopf verletzt wird, wehrt sich und überlebt. Der Text beschreibt soziologisch brillant die Umstände der medizinischen Versorgung in Russland und Frankreich und schildert den Prozess der langsamen Heilung von diesem körperlich wie seelisch traumatischen Ereignis. Im Zuge der Re- und Neukonstruktion der Identität der Protagonistin, deren verstümmeltes Gesicht die westlichen Ideen der Repräsentation, der Einheit von Innen und Außen ins Wanken bringt, führt uns Martin in die „Traumzeit“ eines anderen Denkens, Fühlens und Handels ein. Als mit dem animistischen Denken der Gwich’in in Alaska vertraute Forscherin lässt sie sich auf andere als psychologische Deutungsmuster ein. Von den Ewenen als „miedka“, als zwiespältiges, tabuisiertes Zwischenwesen zwischen Mensch und Bär betrachtet, zeichnet sie über die Schilderung ihrer Träume und Ängste das Zusammentreffen mit dem Bären als nicht zufälliges, sondern von beiden Seiten gewünschtes wie vorherbestimmtes Ereignis nach. Dieser Versuch, am eigenen Leib eine über das westliche, wissenschaftliche, objektivierende Denken hinausgehende Sicht des Verhältnisses von Mensch und Natur zu zeigen, ist nie romantisierend oder esoterisch und stellt zugleich eine Reflexion der Verfahren anthropologischer Wissensproduktion dar.

SaZ

Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Aus dem Franz. von Claudia Kalscheuer. 139 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin 2021 EUR 18,95