Literatur auf engstem Raum
Lydia Davis ist eine Meisterin der Kurzform. Mit wenigen Worten gelingt es ihr eine ganze Geschichte zu erzählen, wie etwa „Mit achtundzwanzig sehnt sie sich danach, noch einmal fünfundzwanzig zu sein“ oder „Sie war ein bisschen betrunken, als sie das Abendessen kochte, und ließ alles anbrennen. Er war ein bisschen betrunken, als er es aß, und es war ihm egal“. Davis gelingt es bravourös, komplexe emotionale oder gesellschaftliche Zusammenhänge in verdichteter Form darzustellen. Davis spürt die scheinbar nebensächlichen, unbedeutenden Überraschungen des täglichen Lebens auf und gießt sie in kurze literarische Meisterwerke. Dabei zieht sie alle Register von pointiert, komisch über fabelhaft, melancholisch bis zu doppelbödig, tiefgründig. Stoff dafür findet sie überall: Die Autorin belauscht Gespräche und interpretiert sie neu. Sie verwechselt einen Eilbrief mit einem seltenen weißen Schmetterling und konstruiert waghalsige Verbindungen zwischen sich und diversen berühmten Persönlichkeiten. Sie hat einen Blick für die komischen Paradoxien des Alltags. Besonders gut gelungen ist ihr das in der letzten Geschichte des Bandes: „Wenn wir tot und fort sind, mag es tröstlich sein, das schnelle Klopfen an der Tür zu hören, wie die Stimme auf der anderen Seite sagt: ‚Housekeeping!‘, auch wenn wir nicht in der Lage sein werden, die Tür zu öffnen.“ Ein großes Lesevergnügen.
Ute Fuith
Lydia Davis: Unsere Fremden. Aus dem Engl. von Jan Wilm. 312 Seiten, Droschl, Graz-Wien 2024 EUR 26,00