Nachkriegswehen und Konjunktur
Wer oder welche in den 60er und 70er Jahren nicht dabei war, sollte dieses Buch umso dringlicher lesen: Scheitelknien, Marterpfahl – alltägliche elterliche und kindliche Brutalitäten werden prägnant erzählt. Besonders das Gewaltmittel der Annäherung im Gespräch fällt auf. Rückt die Mutter nahe, ist Ungemach im Busch: So werden Weitpisswettbewerbe der Kinder von einer lästigen Nachbarin aufgedeckt und sind Anlass für ein solches Mutter-Tochter-Gespräch. Die Wohnsiedlung nahe der Voest-Werke in Linz ist der Hauptort. Der Vater tritt als handwerklich geschickt, technikaffin und im Umgang mit Institutionen auf: Die Deutschnote wird besser, nachdem der Vater die Lehrerin auf eine falsche Korrektur aufmerksam macht. Margit Schreiner beschreibt Bildungs- und Erziehungsgrundlagen für Trennlinien im Erwachsenenalter. Gewaltige Spielmechanismen im Werkssiedlungshof sind die Vorboten dieser Trennungen. Ihre Sprachkunst manifestiert sich darin, dass sie Erinnerungen wachruft, ohne therapeutisch nachzusetzen. Wer oder welche die dargestellten 60er und 70er Jahre als Kind überlebt hat, scheint weitgehend abgehärtet zu sein. Gesellschaftliche Beurteilungen und Resümees bleiben im Hintergrund. Es keimt die Frage auf, wie Gesellschaftsbildung in fünfzig Jahren rückblickend wahrgenommen und erzählt wird. Die Autorin leistet im Gezeigten literarisch bravouröse Aufdeckungsarbeit und liefert eine wirkungsmächtige Vorgabe.
Gerlinde Mauerer
Margit Schreiner: Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen.Über das Private. 224 Seiten, Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2021, EUR 22,90