„They did not look after me“

Auch in ihrem neuen Roman verarbeitet Ulrike Edschmid das Leben eines vormaligen Geliebten als neutrale Chronistin. Die Geschichte beginnt 1972, als die aus Berlin kommende Ich-Erzählerin zu einem Filmfestival nach London fährt. Sie beschäftigt sich dort auch mit Solidaritätsarbeit für eine Gruppe von acht Personen, die einen Bombenanschlag verübt haben soll und nun vor Gericht steht. In einer politischen Wohngemeinschaft lernt sie den „Engländer“ kennen und sie verlieben sich ineinander. Nach und nach erfährt sie mehr über seine Lebensgeschichte. Er stammt aus ärmlichen jüdischen Arbeiterverhältnissen und kennt nur einen Bruchteil der Geschichte seiner familiären Vorfahren. Die väterlichen Wurzeln bleiben ihm unerschlossen. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden verwandelt sich nach wenigen Jahren in Freundschaft. Der Engländer wendet sich als Regisseur dem experimentellen Theater und der Oper zu und wird ein rastloser Kosmopolit, seine Begeisterung für den Fußball begleitet ihn. Vierzig Jahre später erhält er einen merkwürdigen Anruf von einer ihm nicht bekannten Cousine. Edschmids Schreibstil berührt durch ihre genaue, ruhige Beobachtungsgabe. Offenbar neigen Familienzusammenhänge dazu, Tabus zu pflegen und genau diesem Phänomen widmet sich die Autorin. Nachzeitig gelüftete Geheimnisse verdeutlichen, wie brüchig und instabil familiäre Verhältnisse sind. Über Generationen hinweg werden jedoch ökonomische und emotionale Beschädigungen kopiert. Dicht und spannend!
 ML
Ulrike Edschmid: Levys Testament. 114 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2021, EUR 20,70