Scharfsichtige Analyse

Die Pest in Zeiten der politischen Pest, so beschreibt Ljudmila Ulitzkaja das Setting ihres Textes, den sie auf Grundlage von Erzählungen über ein wahres Ereignis entwickelt. In den 30erJahren hatte sich ein Forscher in einem Impfstofflabor mit Pestviren angesteckt und reiste danach zu einer Konferenz in Moskau. Die folgenden Ereignisse, wie der Forscher erkrankt, der behandelnde Arzt mit in Quarantäne geht und die Kontaktpersonen mittels Geheimdienst aufgesucht werden, das alles inszeniert die Autorin extrem spannend bei gleichzeitig sachlich beschreibender Distanz und gelegentlich düster funkelnder Ironie. Sie schildert in meisterhaft knappen Szenen und mittels lebendig gezeichneter ProtagonistInnen, wie die politische Schreckensherrschaft „durchgreift“, Fachpersonal unter Druck setzt und Fehlinformationen über die Geschehnisse
verbreitet. Offiziell ist die Rede von „Influenza“ statt von Pest, um Panik in der Bevölkerung zu vermeiden, wobei Einzelschicksale völlig ignoriert werden. Der Text wurde bereits in den 70er Jahren als Drehbuch verfasst, aber nicht zur Verfilmung angenommen. Jetzt ist er ungewollt aktuell und liest sich mitreißend und erkenntnisreich. Ulitzkaja gelingt es zu zeigen, wie eine Krise das wahre Gesicht von Politik und Gesellschaft offenbart. Und sie rechnet mit der Kraft der Veränderung.
 Susa
Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt. Aus dem Rus. von Gianna-Maria Braungardt. 112 Seiten, Carl Hanser, München 2021, EUR 16,50