Nazihintergrund versus Migrationshintergrund

Der deutsche Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit geht von der erfolgreichen Aufarbeitung und Bewältigung von Faschismus, Holocaust und Antisemitismus aus. Esra Özyürek, Soziologin, Politikwissenschafterin und Anthropologin in Cambridge mit türkischen Wurzeln untersucht, welche Position muslimischen Migrant*innen in dieser Aufarbeitung und der damit verbundenen Erinnerungskultur zugewiesen wird. Die mangelnde Aufarbeitung von Antisemitismus und somit Antisemitismus selbst werden nach der Wende den ‚Ostdeutschen’ und zunehmend der muslimischen Bevölkerung zugeschrieben. Die Autorin spannt einen Bogen von den Theorien über Ursachen der Herausbildung autoritärer Gesellschaftsstrukturen, wie jenen von Wilhelm Reich, und US-amerikanischer anthropologischer Literatur aus der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zu den Ansätzen zeitgenössischer Deradikalisierungsprojekte für muslimische Jugendliche in Deutschland. Interessiert und kritisch beobachtet sie Gruppendiskussionen im Rahmen solcher Projekte und begleitet muslimische Jugendliche bei einer Reise ins KZ Auschwitz. Ihre Untersuchung stellt sie in den Kontext der jüngsten Entwicklungsgeschichte des Begriffes Antisemitismus, den sie anhand von Diskussionen und öffentlichen Dokumenten umreißt. Ein spannendes Buch, das nachdenklich stimmt und die Diskussionen um und Vorwürfe von Antisemitismus unter einem neuen Gesichtspunkt beleuchtet.

Sena Doğan
Esra Özyürek. Stellvertreter der Schuld. Erinnerungskultur und muslimische Zeitzeugen in Deutschland. Aus dem Engl. von Elsbeth Ranke. Vorwort von Eva Menasse. 320 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2025 EUR 26,80